Nationale Souveränität wird oft als ein unverrückbarer, nicht zu hinterfragender Fixpunkt behandelt. Sie ist somit ein beliebtes “darauf-kann-nichts-mehr-kommen”-Argument. Viele implizite Annahmen für dieses Argument sind oft inkorrekt.

Vor ein paar Wochen warnte der US Senator Kyl bei der Entgegennahme einer Auszeichung vor einem aussenpolitisch illustrem Publikum vor den Gefahren des Souveränitätsverlusts. Er sprach gar von einer “Kampagne gegen die Souveränität”. Anlass dazu war die Ankündigung des US Aussenministeriums ein Zusatzprotokoll der Genfer Konventionen zu ratifizieren und einen Artikel eines anderen “freiwillig zu befolgen” (Zusatzprotokoll II und Artikel 75 von Protokoll I). Auch der rechte US Chefpolterer vom Dienst, Rush Limbaugh sieht einen Ausverkauf der nationalen Souveränität. Dieser Souveränitätskomplex findet man nicht nur in den USA. Ich habe schon öfters über das diesbezüglich mangelnde Verständnis bei der Schweizerischen Volkspartei geschrieben.

Diesen Verteidigern der staatlichen Souveränität ist gemeinsam, dass sie so tun als ob Staaten völlig autonom handeln können und weder in ein grösseres System eingebettet sind, noch irgendwelche Regeln ausser die selber gesetzten zu befolgen haben. Wie mit allem ist es natürlich auch hier etwas komplizierter.

Das heutige Konzept von nationaler Souveränität kann man wahrscheinlich auf den Westfälischen Frieden von 1648 zurückführen. Ohne hier auf die historischen Details einzugehen, steht dieser Vertrag vor allem für die Idee von unabhängig agierenden Staaten, die als gleichberechtigte Partner zu betrachten sind und die über ihre inneren Angelegenheiten, Bevölkerung und Territorium selbst bestimmen aber für diese auch die Verantwortung übernehmen. Souveränität war aber seit dem immer eingeschränkt und es gab sie nie in der Idealform wie sie Kyl, Limbaugh und Co. suggerieren. Zum Beispiel die folgenden vier:

Freiwillige Einschränkungen

Staaten haben schon immer ihre Souveränität freiwillig beschränkt. Pardoxerweise ist dies eigentlich ein Akt der die staatliche Souveränität bestätigt auch wenn diese anschliessend reduziert ist. Fast jeder internationaler Vertrag ist eine solche Beschränkung auch wenn keine Macht direkt an eine andere Institution weitergegeben wird. Natürlich wird dafür etwas erwartet. Meist ist dies, dass sich die andere Seite eben auch eine Souveränitätsbeschränkung auferlegt. Die Einschränkung der eigenen Souveränität ist also der Preis für die Einschränkung jener der anderen.

Zwingende Einschränkungen

Es gibt Regeln im Völkerrecht, die gelten für alle. Manche dieser Regeln können explizit oder manchmal implizit ausser Kraft gesetzt werden. Dann gibt es aber auch zwingende Regeln. Obwohl es bei manchen umstritten ist, ob sie zwingend sind oder nicht, gibt es viele wo praktisch Konsens besteht. Das wäre dann eben das zwingende Völkerrecht. Egal wie man poltert, jammert und wehklagt, es liegt nicht an einem einzelnen Staat, diese Regeln ausser Kraft zu setzen (hier ein Eintrag von mir zum zwingenden Völkerrecht).

Umweltbedingte Einschränkungen

Staaten sind nicht isoliert. Man kann das Territorium zwar abstecken aber es wird immer durchlässig bleiben. Häufig ist dies sogar eine Voraussetzung für Wohlstand, denkt man Beispielsweise an den Waren- und Güterverkehr. Weder sitzen wir unter einer Käseglocke noch gibt es eine Möglichkeit die Tür nach Aussen völlig zu schliessen (schon alleine die begrenzten Ressourcen die einem Staat zur Verfügung stehen machen dies unmöglich). Darum müssen wir damit leben, dass es äussere Einflüsse gibt, die sich der staatlichen Souveränität entziehen. Sei es Migration, Klimawandel, global supply chains oder Twitter: Selbst wenn man in seiner Entscheidungsfindung völlig souverän bleibt, gibt es Dinge die man nicht kontrolliert. Solche Grenzüberschreitende Phänomene können oft nur gemeinsam mit anderen gelöst werden und dies hat zwangsläufig auch einen Einfluss auf die Souveränität der betroffenen Ländern.

Notwendige Einschränkungen

In den Internationalen Beziehungen gilt oft die Grundannahme, dass die Staatengemeinschaft ein anarchisches System ist. Das stimmt insofern, dass es wirklich kaum etwas gibt, dass man als übergeordnete Zentralgewalt auslegen könnte (am nächsten dran kommt vermutlich der UN Sicherheitsrat, aber das ist für ein andermal). Es ist jedoch ein Missverständnis zu glauben, dass das heisst jeder kann tun und lassen was er will. Dies mag theoretisch eine Möglichkeit sein, als soziale Tiere wissen wir aber genau, dass das langfristig keine Erfolgreiche Strategie ist. Wer nicht kooperiert, wer sich nicht an Regeln hält und sich einbindet wird geächtet und gestraft. Man wird mit gleicher Münze heimgezahlt. Ein Staat (und das schliesst Supermächte mit ein) hat immer auch auf die Gemeinschaft zu achten, will er sich längerfristig die Handlungsfreiheit sichern.

Nun variieren alle diese Einschränkungen natürlich je nach Staat. Trotzdem gelten sie für alle, vom Mikrostaat bis zur Supermacht. Die Unterscheidung dich ich hier mache ist zwischen Wunschdenken und dem harten Boden der Realität. Die Eingangs zitierten Besorgnisträger (meinen sie ihre Kritik ernst) sind so gesehen politische Träumer: Die Nationalstaaten behalten zwar de jure weitgehend ihre Souveränität de facto ist das aber eine Illusion. Man mag politische gerne vorgaukeln, dass man machen kann was man will. In einem solchen Staat leben möchten aber niemand.

Kommentare (15)

  1. #1 BreitSide
    April 8, 2011

    xxx

  2. #2 redeye
    April 9, 2011

    Danke für diesen Artikel! Hat mir gut gefallen! 🙂

  3. #3 JPeelen
    April 9, 2011

    Ist es nicht ein Unterschied, ob ein Parlament durch Ratifikation eines internationalen Abkommens “Souveränität aufgibt” oder ob dem Parlament von einer internationalen Körperschaft Entscheidungen vogegeben werden?

    Die EU ist ein schönes Beispiel: die Kommission beschliesst “Richtlinien”, die von den nationalen Parlamenten in Gesetze umzusetzen sind.

    Die Kommission ist aber von den Regierungen besetzt, also von der Exekutive, nicht von den Parlamenten (das EU-Parlament hat eine de-facto rein formale Rolle). Insoweit ist die Gewaltenteilung in der EU abgeschafft: die Parlamente haben Gesetze zu beschliessen, die ihnen die Exekutive in Form der Kommission diktiert. Ablehnen einer EU Richtlinie ist nicht vorgesehen.

    Ohne mich mit den genannten Amerikanern solidarisieren zu wollen, scheint mir deren Argumentation gegen die Selbstmarginalisierung der nationalen Parlamente doch zumindest bedenkenswert.

  4. #4 Andreas P.
    April 10, 2011

    aus meiner sicht: treffliche analyse dessen, was sein *sollte*

    limbaugh denkt es und spricht es aus, “seine” regierungen praktizieren es seit über hundert jahren, offizielle doktrien ist es noch nicht ganz so lange: der einzige staat dem nationale souveränität zusteht ist gods own country, alle anderen verlieren diese in dem augenblick, in dem amerika eigene vitale interessen bedroht sieht

  5. #5 Yannick
    April 11, 2011

    Interessant finde ich auch diesen Op-Ed über Russlands Auffasung von Souveränität: https://www.themoscowtimes.com/opinion/article/limiting-russias-sovereign-democracy/434718.html

  6. #6 ali
    April 11, 2011

    @JPeelen

    Ist es nicht ein Unterschied, ob ein Parlament durch Ratifikation eines internationalen Abkommens “Souveränität aufgibt” oder ob dem Parlament von einer internationalen Körperschaft Entscheidungen vogegeben werden?

    Das eine internationale Organisation ohne vorherige Delegation von diesem Recht einem Nationalstaat (oder “Parlament” wie du es formulierst) etwas vorschreibt kommt extrem selten vor (spontan kommt mir kein Beispiel in den Sinn). Die Kompetenz ist bestenfalls umstritten. Fast immer wurde zuvor ein Vertrag unterzeichnet der genau dies bestimmt.

    Was das EU Beispiel betrifft bin ich mit den gemachten Annahmen nicht unbedingt einverstanden: Erstens hat das EU Parlament inzwischen weit mehr als eine formale Rolle, aber das nur am Rande. Zweitens waren es bisher vor allem die Nationalstaaten, die Kompetenzen lieber an die Kommission delegierten (weil sie so auf mehr Kontrolle hofften). Drittens ist das so eine Sache mit “Gewaltentrennung”: Ich weiss nicht inwiefern dies für die EU überhaupt ein nützliches Konzept ist (ist sie doch etwas anderes als ein klassischer Staat). Ausserdem wird sie auch im nationalen Kontext sehr unterschiedlich ausgelegt.

    Aber einmal abgesehen davon: Die Kompetenz für Richtlinien wurde an die Kommission delegiert. Der Rat hat nach wie vor gewisse Ausbrems-Möglichkeiten, kann die Verträge gar ändern oder ein Staat, wenn er keine Mehrheit hat, könnte vermutlich auch einfach austreten. Ein Entscheid der zu einer so radikalen Reaktion führt ist jedoch schwer vorstellbar. Das ist aber genau mein Punkt: Souveränität wird delegiert, weil man mehr dabei gewinnt als verliert.

    Übrigens passiert solche Delegation seit langem und in vielen Gebieten ohne, dass sich jemand darüber gross aufgeregt hätte. Der Zorn trifft immer nur high-profile Institutionen. Selten regt man sich über den Codex Alimentarius auf und noch seltener über die Zentralkommission für die Rheinschifffahrt (ein Abkommen von 1815!). Ginge es um die Souveränität per se und nicht politisches Getöse, sollten diese doch gleichwertige Ziele sein.

  7. #7 CCS
    April 11, 2011

    Danke für den Artikel! Was wäre denn ein Beispiel für eine freiwillige Einschränkung? Ein Handelsabkommen, das einem Land für ein Produkt Zollfreiheit gewährt?

  8. #8 JPeelen
    April 11, 2011

    @ali:
    Danke für die ausführliche Antwort.
    Mir begegnet in Gesprächen mit Politikern immer wieder das Argument: “Wir können nicht anders, wir müssen die EU-Richtlinie umsetzen.” E10 Benzin ist nur ein Beispiel.

    Die Auffassung, dass die Gewaltenteilung für die EU kein nützliches Konzept mehr sei, haut mich als Deutschen nach unseren Erfahrungen und meiner eigenen Beschäftigung mit dem Dritten Reich vom Hocker. Ich kann darauf leider nicht antworten, weil mir sonst der Gaul durchgehen würde.

  9. #9 ali
    April 11, 2011

    @CCS

    Das könnte man eigentlich auch als eine Souveräntitätseinschränkung definieren, ist aber wohl kein ideales Beispiel (man verliert die Möglichkeit darüber zu entscheiden, delegiert aber nicht wirklich Souveränität). Aber zum Beispiel dass man das Festlegen des Aussenzolls an die EU delegiert hat, wäre ein Beispiel direkter Souveränitätsabtretung (um im Handelskontext zu bleiben).

    @JPeelen

    Ich glaube es liegt ein kleines Missverständnis vor: Ich meine nicht, dass Gewaltentrennung nutzlos als Prinzip ist. Ich sage nur dass a) für ein Gebilde wie die EU nicht zwangsläufig immer die gleichen Konzepte wie für Nationalstaaten übertragen werden können (und Gewaltentrennung ist eine Idee aus der Staatstheorie des 18. Jahrhunderts) und b) Gewaltentrennung zum Beispiel in der Schweiz was anderes ist als in den USA oder in Deutschland oder Frankereich etc. (z.B. Wiederwahl von Richtern, Volkswahl von Staatsanwälten, Mandate auf verschiedenen Ebenen, etc. etc.) alle beantworten die Frage was den nun eine saubere Trennung wäre anders. Ich glaube nicht, dass mit der EU da etwas ausserordentlich problematischer wäre, das man so nicht auch bei etablierten Demokratien findet.

  10. #10 ali
    April 11, 2011

    Ah, ja und noch was @JPeelen

    Es gibt gar Literatur die zeigt, dass Politiker sich gerne auf höhere Instanzen berufen, weil sie so ihre Hände in Unschuld waschen können und unbeliebte Massnahmen auf diese abschieben können. Manchmal versuchen sie auch die beiden Ebenen gegeneinander auszuspielen. So gesehen ist deine Beobachtung wohl durchaus korrekt.

  11. #11 CCS
    April 12, 2011

    Verstehe. Danke!

  12. #12 rw
    April 17, 2011

    Ein eher schwacher Beitrag zu der Frage, was Souveränität sei, zumal heute, international, wo nationale Souveränitäten zugunsten internationaler Abkommen aufgegeben werden. Weder erklären Sie, warum es “Flüchtlinge” gibt und warum sie, vgl. Arendt/Agamben, die Grundfesten moderne Souveränitätsvorstellungen erschüttern. Noch gehen Sie darauf ein, dass Souveränität einen Gründungsakt erforderlich macht, vgl. hierzu die amerikanische Verfassung; an dieser Stelle von Wechselwirkungen zu schreiben (und bei Ihnen klingt das so, als gäbe es bloß Schlieren), halte ich für reichlich unpräzise und salopp. Ferner gelingt es Ihnen nicht zu erörtern, dass es auch “falsche Souveräne” geben kann, vgl. hierzu Franz. Revolution. Mir scheint es, als ob Sie, but no offense, den Begriff “Souveräntität” gar nicht als Ganzes erfassen, sondern bloß auf Staaten als Figuren in einem Souveränitätsspiel beschränken, mit “sozialen Tieren” und “Supermächten”. Es scheint, als würden Sie die Dimension verkennen, die z.B. das Völkerrecht auf nationaler Ebene heute bewirkt, auch für die Justiz: nämlich recht wenig. “Menschenrechte” sind zumeist machtlos, sobald sie gebraucht werden und das, obwohl sich alle dazu verpflichten, mitunter in ihren eigenen Verfassungen. Und es ist beiweitem die wichtigste Frage, ob Institutionen wie die UN oder EU überhaupt imstande sind, als Vertreter eines Souveräns aufzutreten – es sieht momentan nicht danach aus. Ich drücke hier, leider zu kurz, ganz klar, bloß meinen Unmut aus. Ihre guten Absichten und Ihr Wissen in Ehren; ich gehe davon aus, dass Sie mehr wissen. Aber vll. hätten Sie es anders angehen sollen. – Viele Grüße

  13. #13 ali
    April 17, 2011

    @rw

    Ich habe Ihren Kommentar nun mehrmals gelesen. Ich verstehe beim besten Willen Ihre Kritik nicht, ausser dass Sie auflisten über was ich nicht geschrieben habe (und da gibt es natürlich noch vieles).

    Die beste Erklärung, für Ihren Unmut die ich mir zusammenschustern konnte ist, dass Sie die Frage von staatlicher Souveränität von einem völlig anderen Blickwinkel her kennen. Könnte es sein, dass nicht ich am Thema vorbeigeschrieben habe, sondern Sie die Absichten des Blogposts missverstanden haben?

  14. #14 s.s.t.
    April 17, 2011

    @ali

    Dann gibt es aber auch zwingende Regeln. Obwohl es bei manchen umstritten ist, ob sie zwingend sind oder nicht, gibt es viele wo praktisch Konsens besteht. Das wäre dann eben das zwingende Völkerrecht. Egal wie man poltert, jammert und wehklagt, es liegt nicht an einem einzelnen Staat, diese Regeln ausser Kraft zu setzen…

    Diese Staaten setzen aber “außer Kraft”, und kein Schwein stört das wirklich. Und auch die UN ist da sehr oportunistisch. Wenn Gaddfi nach Lockerbie (= casus belli) physisch eliminiert worden wäre, kein Thema. Duldet man solche Terrorakte (mit ein wenig Zucker in den Ar..), ist die aktuelle Lybienaufregung unverständlich.

  15. #15 ali
    April 17, 2011

    @s.s.t.

    1. Nur weil eine Regel/Norm nicht durchwegs befolgt wird, heisst das nicht, dass sie als Norm nicht wirklich gilt. Dies gilt auch im internen Recht. Nur weil viel gestohlen wird, heisst das noch lange nicht, dass die Norm deswegen nutzlos oder deplatziert wäre. Im Völkerrecht ohne wirkliche Möglichkeit die Durchsetzung zu garantieren gilt das sogar noch mehr.

    2. Die meisten Regeln (auch von nicht zwingendem Völkerrecht) werden weitgehend befolgt. Die die nicht befolgt werden machen aber am meisten Aufsehen und geben deswegen ein verzerrtes Bild des Völkerrechts ab.

    3. Meistens werden Normen verbal bestätigt, auch wenn sie dann nicht wirklich befolgt werden. Es gibt zum Beispiel kaum ein Land, dass sagt, Folter sei zulässig. Man definiert lieber das was man tut als nicht-Folter. Dies mag unbefriedigend sein, ist jedoch trotzdem ein Hinweis darauf was als richtig respektive falsch gilt.

    4. Bei dem von dir zitiertem Satz dachte ich ganz spezifische an die Schweizerische Volkspartei die in der Verfassung verankern wollte, dass auch zwingendes Völkerrecht nicht gilt für die Schweiz. Ich weiss nun nicht, ob du die Schweiz mit Gaddafis Libyen vergleichen wolltest, aber wir haben offensichtlich nicht an die gleichen Beispiele gedacht. Dass du bei dabei gleich an einen Schurken wie den Colonel dachtest, bestätigt doch nur, dass es eben doch eine Wertevorstellung gibt und die nicht nur von Diktatoren sonder auch von genau solchen Souveränitätschützern demontiert wird.