Londoner Gericht urteilt: mindestens 58 Arbeiten aus “Chaos, Solitons & Fractals” waren nicht veröffentlichungswürdig.
Mathematik und Physik erobern zunehmend die Gerichte: nachdem im April das Landgericht Dresden den flüchtigen selbsternannten Mathematiker Hartmut Müller wegen Betruges zu viereinhalb Jahren Haft verurteilte (er hatte ein auf Quantentheorie und Verschränkung beruhendes Verfahren zur Vorhersage der Lottozahlen entwickelt), hat sich nun auch ein Gericht in London mit der Frage nach Wissenschaftlichkeit und Unwissenschaftlichkeit befassen müssen. In diesem Fall allerdings war derjenige, um dessen Arbeiten es ging, ursprünglich der Kläger: er hatte geklagt gegen einen Artikel in “Nature”, in dem unter anderem berichtet wurde, seine Arbeiten seien “of poor quality” und hätten offensichtlich “either zero, or at best very poor, peer review ” durchlaufen. Es ging um eine Fachzeitschrift, deren leitender Herausgeber der Kläger war und die in nur einem Jahr 58 Arbeiten des Klägers veröffentlicht hatte.
The quality of the articles in question is relevant both to whether publication of themwas excessive, and to whether the Claimant abused his position as Editor-in-Chief of CSF by publishing them in the quantity he did. The question of quality is addressed indetail in relation to Lucas-Box meaning (b); but for present purposes I need only say that I accept Professor Turok’s opinion that the quality of the Claimant’s 58 articles
published in CSF in 2008 was such that they would not have been published by any reputable peer reviewed journal. This in itself is strongly supportive of the case that the Claimant abused his position by self-publishing them in CSF.
(Der “Nature”-Artikel, gegen den geklagt worden war, ist seit dem Urteil wieder online, wir hatten hier und hier über die Vorgeschichte berichtet.)
Im Laufe des 3 Jahre dauernden Prozesses scheinen sich die Rollen von Kläger und Beklagtem dann jedenfalls umgedreht zu haben. Weil der Kläger sich ja unter anderem gegen den Vorwurf gewehrt hatte, er habe seine Position als Herausgeber benutzt, um eigentlich nicht veröffentlichungswürdige Arbeiten niederer Qualität ohne Begutachtungsverfahren veröffentlichen zu lassen, mußte sich das Gericht notgedrungen mit der Frage befassen, ob die Arbeiten wissenschaftlichen Standards entsprachen.
Das Urteil ist online auf https://www.scribd.com/doc/99322808/Mrs-Sharp-s-Judgment und trotz seiner Länge (393 Punkte) lohnt sich die Lektüre: man erfährt viel über die Arbeitsweise wissenschaftlicher Zeitschriften im allgemeinen und von “Chaos, Solitons & Fractals” im besonderen – und nebenbei ist manches schlicht lustig.
Ich kopiere (und übersetze) mal einige zentrale Punkte, bemerkenswert (und neu) ist vor allem der letzte:
[…]
3. Der Kläger beschreibt sich selbst als einen eminenten und hochangesehenen Akademiker, Wissenschaftler und wissenschaftlichen Herausgeber in den Gebieten Ingenieurwesen, Angewandte Mathematik, Angewandte Mechanik und Teilchen- und Hochenergiephysik. Diese Behauptungen werden von den Beklagten bestritten. Unbestritten ist, dass der Kläger ausgebildeter Ingenieur ist, in diesem Gebiet einen PhD hat und der Gründer des internationalen wissenschaftlichen Journals CSF war.
[…]
94. Aus der Tabelle ist ersichtlich, dass in absoluten Zahlen die Selbstpublikationen des Klägers diejenigen des am nächsten kommenden [Herausgebers] Sandweiss [von Physical Review Letters], der länger im Amt war, weit übertreffen. Dieser publizierte ungefähr halb so viele Arbeiten wie der Kläger in einer um 7 Jahre längeren Zeitspanne. Außerdem sind, anders als die 58 Arbeiten des Klägers, viele der von Sandweiss selbstpublizierten Arbeiten gemeinsam mit Koautoren entstanden, in einem Fall mit 350 Koautoren.
[…]
105. Die Qualität der in Frage stehenden Arbeiten ist relevant […] die Qualität der 58 in 2008 veröffentlichten Arbeiten war so, dass sie in keinem reputablen referierten Journal veröffentlicht worden wären. […]
[…]
114. […] Wir leben nicht in der Zeit von Galileo. Wissenschaftler und Wissenschaftsinteressierte wie interessierte Amateure können publizieren und ihre Ideen in der Welt verbreiten und in der Internet-Zeit gibt es dafür viele Plattformen. Aber sie dürfen ihre Entdeckungen nicht so präsentieren, als ob sie einen Begutachtungsprozess durchlaufen hätten, wenn das nicht der Fall ist. […]
[…]
120. Laut Prof. Turek gab es in den 58 Arbeiten folgende Probleme:
i) Keine Definition von Terminologie und Konzepten, insbesondere keine Darstellung der Prinzipien und Gleichungen der “E-unendlich-Theorie” und der aus ihr abgeleiteten Vorhersagen.
ii) Stark betonte Schlußfolgerungen, nicht gedeckt von irgendeinem, oder irgendeinem intelligenten, Prozess logischen Argumentierens; insbesondere das wiederholte unerklärte Bezugnehmen auf numerische Koinzidenzen zur Unterstützung der Behauptung, die “E-unendlich-Theorie” des Klägers sei korrekt.
iii) Statements, die sinnlos oder selbst für Experten unverständlich sind.
iv) Statements, die einfach falsch sind.
v) Elementare Fehler in Orthographie und Grammatik.
vi) Das Fehlen irgendeines, oder irgendeines substanziellen, neuen Beitrages.
[…]
122. Einige Punkte waren relativ technisch; einige nicht; und in Anbetracht der Komplexität der behandelten wissenschaftlichen Themen beschränkte Prof.Turok seine Kritik auf Punkte, die von Laien verstanden werden können. Aber, um Samuel Johnson zu paraphrasieren, man muß kein Tischler sein um zu sehen, ob die Beine eines Tisches schief sind oder ob er überhaupt keine Beine hat.
[…]
157. Der Kläger griff [den Gutachter] Prof.Turok persönlich an […] mit Briefen und e-Mails […]
[…]
198. […] [Der Kläger] schien im wesentlichen zu sagen, dass [seine Mitarbeiterin] Frau Böhm Stichpunkte machte, wenn Gutachter Kritik zu einer Arbeit hatten, und diese an den Kläger weiterreichte. Mittels eines Ratevorgangs würde dieser dann herausfinden, wer die Gutachter sind und mit ihnen eine informelle Diskussion über ihre Kritik führen. Es sind keine Dokumente erhalten zu diesem Prozess, der weder plausibel ist noch mit den üblichen Prozeduren im Einklang.
[…]
204/205. Eine Arbeit von Esposti et al.[…] wurde im Februar 2007 von einem lokalen CSF-Editor angenommen. Im Juli 2007 erhielten die Autoren eine e-Mail von C.Cole, dass neue Referees die Arbeit angesehen hätten und als eine Bedingung für die Publikation verlangten, dass zusätzliche Referenzen zu in CSF veröffentlichten Arbeiten von Hao Bai Lin und anderen über DNS und verwandte Themen hinzugefügt werden.:
“Publication will be halted until we receive either your revised manuscript electronically to this office – or an official email from you stating that you wish to withdraw from publication”
Die Autoren erklärten in ihrer Antwort, dass ihre Arbeit nichts mit DNS zu tun habe. Trotzdem baten sie um Links zu den Arbeiten, an die die Referees anscheinend gedacht hatten. Die Antwort von C.Cole:
“Our referees are now on a holidaybreak. Only one of the Referees mentioned DNA – the others just refereed (sic) to many related works published in CS&F. I am sure you will find something on Elsevier’s site Science Direct. Just do what you can and resubmit .” […]
Auch viele andere Punkte sind interessant.
Punkt 131-148 des Urteils behandeln den mathematischen Inhalt von El Naschies Arbeiten, Punkt 56-66 sind eine allgemeine Beschreibung der üblichen Begutachtungsverfahren bei wissenschaftlichen Zeitschriften, Punkt 180-190 befaßt sich mit dem unplausiblen Fehlen jedweder schriftlicher Dokumentation zum Begutachtungsprozeß von El Naschies Arbeiten. Sehr bizarr ist Punkt 286-317, wo es um eine Reihe von angeblichen Mitarbeitern El Naschies bei “Chaos, Solitons & Fractals” geht, die aber allem Anschein nach nicht existieren. (Nach Meinung des Gerichts stammen die unter den Namen dieser angeblichen Mitarbeiter verfaßten E-Mails überwiegend von El Naschies früherer Frau.) Sehr interessant sind auch Punkt 338-346 über die Telefonate des beklagten Journalisten Quirin Schiermeier mit verschiedenen Professoren und Punkt 369 über einen kaum verhüllten Bestechungsversuch des Klägers (vor Erscheinen des Artikels) gegenüber dem Journalisten Q.S.: This bizarre, and presumably facetious email to QS,described a romantic hotel the Claimant said he used to stay at with his father, and suggested once the dust had settled, QS and he might meet and go skiing in the Bavarian Alps.
Presseecho:
The Guardian
Nature
New Scientist
BBC
PressGazette
El Naschie Watch
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