Hier ist ein kleines Rätsel für euch: Stellt euch ein Bauteil vor, das bei einer bestimmten Last versagt (also beispielsweise zerbricht). Jetzt nehmt ihr ein zweites, absolut identisches Bauteil. Ist es möglich, von diesem zweiten Bauteil Material so zu entfernen (mit einem Messer, einer Schere, was auch immer), dass dieses zweite Bauteil eine größere Last trägt als das erste? Kann es irgendeine Form eines Bauteils geben, bei der das klappt?

Rein mit den Mitteln der Logik und ein bisschen physikalischem Grundwissen scheint leicht einzusehen, dass das unmöglich sein kann: Ein Bauteil bezieht seine Festigkeit aus den Atombindungen. Es zerreißt, wenn diese Atombindungen überlastet werden. Wenn ich aus dem Bauteil Atome entferne, dann entferne ich auch Atombindungen. Also müssen die übrigbleibenden Atombindungen mehr Last ertragen, also muss ein Bauteil, aus dem ich Material entferne, bei kleinerer Last versagen (oder maximal gleicher Last, wenn ich Material irgendwo in einem unbelasteten Bereich entferne).

Das ist logisch, nachvollziehbar und daran ist sicher nicht zu rütteln.

Leider ist es aber falsch – und das zeigt nicht nur, dass man sich auf rein abstraktes Denken nicht immer verlassen kann, sondern auch, dass es höchste Zeit ist, mal etwas über Bruchmechanik zu schreiben.

Natürlich klappt der Trick mit dem Materialentfernen nicht bei jedem beliebigen Bauteil (sonst könnte man aus jedem Bauteil immer wieder Material entfernen, dann aus dem neuen Bauteil wieder und immer so weiter), sondern nur, wenn das Bauteil eine bestimmte Form hat.

Bevor ich erkläre, warum das funktionieren kann (und was Toilettenpapier und Dinozähne damit zu tun haben), hier erst einmal ein kleines Experiment – ihr braucht eine Schere, zwei Blätter Papier (oder mehr, falls ihr ein bisschen rumprobieren müsst, bis alles klappt) und einen Locher.

In das erste Blatt Papier knipst ihr mit dem Locher ein Loch genau in der Mitte einer Kante. Dann schneidet ihr mit einer Schere einen Riss von der Kante bis zum Loch. In das zweite Blatt schneidet ihr einen Riss, der genau so lang ist wie der im ersten Blatt, nur ohne Loch am Ende:

Jetzt nehmt ihr das Papier an den Enden und reißt es auseinander. Wenn alles klappt, solltet ihr merken, dass das Papier mit dem Locherloch etwas mehr Kraft zum Zerreißen benötigt. Falls es so nicht klappt (es hängt nach meinen eigenen Versuchen ein bisschen von der Papiergröße und -sorte ab, ob man einen Unterschied spüren kann), macht den Riss etwas tiefer; dann wird’s mit dem Lochen allerdings schwieriger, schneidet im Zweifel das Loch vorsichtig mit einer Schere aus und macht es etwas größer. Bei mir hat es gerade mit dieser Versuchsanordnung (Notizpapier mit etwa 8cm Kantenlänge) ganz gut geklappt:

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Also: Mit großen Loch trägt das Papier etwas mehr Last als ohne, obwohl doch nur Material entfernt wurde.

Der Trick steckt natürlich im Riss. Rissspitzen können ein Material schwächen, und zwar um so mehr, je schärfer sie sind. Ein am Ende ausgerundeter Riss ist “harmloser” als ein sehr scharfer.

Warum ist das so? Dazu schauen wir uns ein belastetes Bauteil an, das einen (hier sehr stumpfen) Riss hat (den ein Ingenieur als “Kerb” bezeichnen würde). Hier als Beispiel eine “gekerbte Welle” – also ein langer Zylinder, der in der Mitte einen etwas kleineren Durchmesser hat:

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(Bild aus: Rösler, Harders, Bäker, Mechanisches Verhalten der Werkstoffe)

Natürlich ist unser Bauteil mit Kerb schwächer als das gleiche Bauteil ohne den Kerb – es hat ja in der Mitte einen kleineren Durchmesser, muss also mit weniger Querschnitt die selbe Last tragen. Das ist aber nicht alles. Der Kerb sorgt nämlich auch dafür, dass die Last sich ungleichmäßig verteilt.

Um das zu veranschaulichen, sind in das Bild “Kraftlinien” eingezeichnet, die zeigen, wie das Bauteil belastet ist. Jede Kraftlinie symbolisiert sozusagen einen Teil der aufgebrachten Last – da wo die Linien dichter sind, ist die Belastung entsprechend höher, da wo sie weniger dicht sind, ist die Belastung niedriger.

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Kommentare (31)

  1. #1 Geisterfalle
    20. Februar 2012

    Unglaublich, dass ich durch solch einen tollen Artikel als Informatiker für Eigenschaften von Werkstoffen begeistert werde. Chapeau, sehr unterhaltsam und lehrreich 😀

  2. #2 MartinB
    21. Februar 2012

    @Geisterfalle
    Danke schön 🙂

  3. #3 miesepeter3
    21. Februar 2012

    @Martin B.

    Dazu fällt mir dieser Uraltwitz ein:
    In einer Fabrik für Flugzeuge reißen bei einem neuentwickelten Typ beim Durchbruch durch die Schallmauer die Tragflächen immer dicht am Rumpf ab. Die Ingenieure lassen sich immer wieder was neues einfallen, um das abzustellen, nichts hilft. In ihrer Verzweifelung machen sie einen Ideenwettbewerb im Unternehmen, aber niemandem fällt dazu was ein. Doch einem schon, dem Hausmeister. Sein Tipp, perforiert die Stelle genau so wie beim Toilettenpapier. Diese Idee erscheint allen ziemlich schwachsinnig, aber nachdem man schon die unmöglichsten Versuche erfolglos gestartet hatte, kommt es auf diesen einen auch nicht mehr an. Gesagt, getan, man perforierte. Und dann geschah das Wunder, die Tragflächen hielten jeder Belastung stand. Die Testpiloten knüppelten die Maschine immer wieder durch die Schallmauer, nichts passierte. Freude über Freude in der Entwicklungsabteilung, aber nun wollte man vom Hausmeister wissen, welch bahnbrechende wissenschaftliche Erkenntnis ihn zu diesem Tip veranlasst hatte. Die bescheidene Antwort lautete:” Hat jemand schon mal erlebt, dass Toilettenpapier da reißt, wo es soll?”
    Nun, dass entspricht nicht der Vorgabe des Artikels, aber passt irgenwie zum Thema, oder?

  4. #4 MartinB
    21. Februar 2012

    @miesepeter
    Stimmt, der ist nicht schlecht.

  5. #5 Regina
    21. Februar 2012

    Danke für diesen Artikel. Ich lerne immer gerne was dazu.

  6. #6 sumo
    21. Februar 2012

    ein sehr schöner Beitrag, vielen Dank dafür! Es ist eine anschauliche Erklärung für das Phänomen der Kerbwirkung, die sich manchmal sehr schmerzhaft bemerkbar machen kann, wenn z.B. ungeeignete Werkstoffe gemeinsam montiert werden und ein Bauteil dann versagt. Das ist mir vor langer Zeit passiert, beim Radfahren brach mir der Alulenker, der in einem Stahlvorbau montiert war. Der Vorbau war innen nicht sorgfältig entgratet, so daß sich dieser Grat im weicheren Alu einarbeiten konnte und es zu einer Rißbildung kam und der Lenker versagte.

  7. #7 MartinB
    21. Februar 2012

    @sumo
    Ja, das ist böse. In solchen Fällen kommt dann meist noch die Ermüdung dazu, die habe ich schon vor langer zeit mal erklärt:
    https://www.scienceblogs.de/hier-wohnen-drachen/2010/10/konnen-werkstoffe-mude-werden.php
    Per Ermüdung können auch kleine (und unter einmaliger Last harmlose) Risse zum Versagen führen.

  8. #8 roel
    21. Februar 2012

    @MartinB mal wieder ein super Artikel mit super einfachen Erklärungen. Das mit der Aufreisskerbe oder dem Aufreisskeil ist eine tueckische Angelegenheit. Der Riss geht nie gerade durch, meistens jedenfalls nicht. Die einfachste Variante ist übrigens ein gezackter oberer Rand.

  9. #9 MartinB
    21. Februar 2012

    “Der Riss geht nie gerade durch, meistens jedenfalls nicht”
    Ich denke, da spielen zwei Dinge rein:
    Erstens zerreißt man meistens nicht exakt in der Ebene, sondern hat immer eine schräge Komponente drin (also sozusagen aus der Papierebene heraus).
    Zweitens ist so ne Gummibärchentüte nicht überall gleich, so dass der Riss (bei mir jedenfalls) meist auf die Kante der Tüte zuläuft.

  10. #10 BreitSide
    21. Februar 2012

    Super! Da keimen alte Erinnerungen auf. Eeeeeendlich hab ich kapiert, warum winzigste Risse (Sandkörnchenkratzer und so) nicht jedes Bauteil sofort zerstören. Die Rissstopbohrungen sind mir noch gut im Hirn.

    Hab später nicht mehr damit zu tun gehabt, aber die Frage kam mir immer mal wieder. Jetzt hat die liebe Seele ruh…:)

  11. #11 MartinB
    21. Februar 2012

    @BreitSide
    “die Frage kam mir immer mal wieder.”
    Ja, so ging’s mir auch immer. Und dann habe ich irgendwann ein Stück Papier genommen und mal die Kraft auf eine einzelne Atombindung in einem Kristal an der Rissspitze ausgerechnet, indem ich einfach die Formel für die Spannung an der Rissspitze über eine Atomlänge aufintegriert habe. Da kommt dann direkt ein sehr vernünftiger Wert heraus, der zu typischen Bindungsenergien passt.
    Das hat jetzt auch Eingang als Übungsaufgabe in unser Meisterwerk gefunden, auch wenn meine Koautoren die Aufgabe wohl etwas unnötig fanden. Aber Dein Kommentar zeigt, dass noch andere daran herumrätseln.

  12. #12 rolak
    21. Februar 2012

    Wesentlich schöner als die ordinäre Lochung finde ich bei den bei Sägeblättern not­wen­digen ‘Rissen’ die Spiralisierung. Gibts auch in richtig schön eingerollt, finde ich im www grad nicht…

    denn damit man es gut abreißen kann, ist es perforiert

    Ich befürchte, da habt ihr etwas völlig falsch verstanden…

  13. #13 MartinB
    21. Februar 2012

    @rolak
    Zweiter – den hatte Miesepeter schon erzählt…
    Die Spiralen sind aber schick.

  14. #14 Johannes W.
    21. Februar 2012

    Danke, sehr guter Artikel erstmal!

    https://www.saege24.de/images/2008_07_13_21-40-58-1005neg_zoom.JPG

    Ich hab den Link zu einem Bild eines Kreissägeblattes verlinkt und ich nehme mal an, dass diese gewollten “Mäander-Risse” oder wie man sie nennen soll gegen ein Reißen und des Blattes dienen wenn sich Schnittgut verklemmt oder blockiert und somit dann eine Entspannung herbeigeführt wird. Es verwindet sich somit weniger. Kann man das so sagen oder wie ist das dort zu erklären? Diese zugeführten “Risse” sind ja wohl auch so geschlungen, damit es im Ernstfall keinen geraden Rißverlauf geben kann welcher das Blatt komplett aufsprengt, nehme ich an. Liege ich da jetzt richtig oder falsch?

    Keine Ahnung warum unser Spamfilter das nicht mochte? Vermutlich wegen des Links?

  15. #15 rolak
    22. Februar 2012

    /zweiter/ ^^oha, den habe ich iwie überlesen…

  16. #16 roel
    22. Februar 2012

    @MartinB· 21.02.12 · 18:41 Uhr

    So ich habe mal mein Wissen etwas aufgefrischt, war mir gestern nur 99% sicher. Die Gummibärchentüte besteht meistens aus einer Verbundfolie, also einer Folie, die aus 2 Folien zusammenkaschiert wurde. Die äussere Folie ist gereckt oder man sagt auch orientiert, d.h. sie ist nur noch bedingt dehnfähig. Die innere ist nicht speziel gereckt, also dehnfähig. Und dadurch reißt sie mehr oder weniger unkontrolliert ein. Bei einer Chipstüte sieht es anders aus, die besteht i.d.R. nur aus einer einzelnen gereckten Folie und reißt dadurch gerader auf, allerdings auch schneller und fast unstopbar, da ja die Lochbohrung fehlt.

  17. #17 MartinB
    22. Februar 2012

    @roel
    Ah, interessant, wieder was gelernt. Jetzt frage ich mich natürlich, warum die Gummibärchen ne Verbundfolie bekommen und die Chips nicht.

  18. #18 roel
    22. Februar 2012

    @MartinB Na dass ist schwer zu erklären, verpackungstechnisch sind beide Folien geeignet für beide Produkte. Es hat sich auf der einen Seite historisch entwickelt und auf der anderen Seite sind es Marketinggründe. Eine Chipstüte “muss” ordentlich knistern, die Gummibärchentüte nicht.

  19. #19 MartinB
    22. Februar 2012

    roel
    Ja, das mit dem Knistern hatte ich auch überlegt – und mich dann gefragt, warum eine gezogene Folie mehr knistert als eine doppellagige. Weil die gestreckten Polymerketten sich nicht so gut umformen lassen und die Chipstütenfolie deshalb eher knickt als sich einfach zu verbiegen?
    Hast du dazu irgendwelche Links parat? Das wäre ja mal ne coole Sache für unsere Erstsemester – Werkstoffkunde von Naschzeugtüten, mit praktischem Anschauungsmaterial finanziert aus Studiengebühren 😉

  20. #20 roel
    22. Februar 2012

    @MartinB Wegen Links muß ich mal schauen, aber die sollten dann ja schon gut sein, dauert dann ein klein bisschen. Anschauungsmaterial stelle ich dann gerne kostenlos zur Verfügung.

    Also der Knistereffekt beruht auf der Orientierung der Polymerketten, dass macht die Folie steifer und daher knisternd und nicht so biegasam.

  21. #21 MartinB
    22. Februar 2012

    @roel
    “Also der Knistereffekt beruht auf der Orientierung der Polymerketten”
    Und warum knistert’s dann nicht, wenn ich ne zweite Folie dazunehme? Die gestreckte Folie hat ja trotzdem orientierte Ketten und ist wenig biegsam. Oder verhindert die zweite Folie das lokalisieren der Verformung zum Knick?

    “Anschauungsmaterial stelle ich dann gerne kostenlos zur Verfügung.”
    Aber bitte mit Inhalt ;-)))

  22. #22 roel
    22. Februar 2012

    @MartinB Die Verbundfolien für z.B. Gummibären bestehen i.d.R. aus 20µm gereckten Polypropylen (da gibt es verschiedene Abkürzungen für O-PP, PP-O, BOPP…) und 40µm Polyethylen (PE). Das PE ist nicht gereckt, d.H. wenn du das nimmst, kannst du das solange ziehen, bis das es irgendwann mal reißt. Das PP kannst du fast gar nicht in die Länge ziehen. Beide Folien zusammen ebenfalls kaum, aber durch das PE knistert es deutlich weniger.

    “Aber bitte mit Inhalt ;-)))” Wenn der nicht für ein ganzes Semester reichen muß.

  23. #23 MartinB
    22. Februar 2012

    @roel
    Danke für die Zusatzinfos
    “durch das PE knistert es deutlich weniger.”
    ist mir noch nicht so ganz klar – muss wohl heute abend mal ein paar Versuche anstellen.

  24. #24 roel
    22. Februar 2012

    @MartinB Das kann man sicher physikalisch erklären, aber den Teil den ich dazu bräuchte hast du hier noch nicht besprochen. Die Eigenschaften beider Materialien ergänzen sich teilweise, addieren sich auch teilweise und das führt dazu, das das Knistern des PP’s weniger wird. Wenn du eine Frischhaltefolie hast, kannst du diese als PE nehmen, die ist aber viel dünner als 40µm, also dann vielleicht auch doppelt und dreifach nehmen.

  25. #25 roel
    22. Februar 2012

    @MartinB Ich stell dir mal ein Mustermaterialien zusammen. Kann aber bis nächste Woche dauern.

  26. #26 BreitSide
    22. Februar 2012

    @rolak: Ja, die Schwingungs-(Schall-)dämpfung kann manchmal richtig schön sein.

    “Leider” dämpft ein Sandwichsägeblatt (mit aufgebrachtem dünnen Metallblech/-folie auf beiden Seiten) noch besser. Sieht aber nicht mehr so hübsch aus….

    Tatsächlich, das www spuckt nix aus. Das sieht auch ganz nett aus: https://www.rosa-moser.at/sites/default/files/produkte/4700803200_Premium4in1.jpg

  27. #27 MartinB
    22. Februar 2012

    @roel
    Echt jetzt? Ich hätte mich ja mit meinen häuslichen Lakritz- und Chipstüten amüsiert, aber wenn du was schickeres hast, nehm ich das natürlich gern.

  28. #28 rolak
    22. Februar 2012

    Hi Johannes W., die Schnitte dienen ausschließlich der Schalldämpfung. Sehr notwendig, da der genutzte Stahl ungemein hart ist – und die Verballhornung Kreischsäge habe ich auch schon lange nicht mehr gehört. Hier wäre ein aktuelles Exemplar von Leitz, bei dem auch die Endlochungen schön wiederzufinden sind; doch das sieht mir viel zu wenig ‘handgemacht’ aus. Mal schauen, ob ich morgen bei der Arbeit eines dieser schönen Exemplare finde, dann gibts ein Photo…

    Mit Deiner Vermutung zur Begründung des sich Eindrehens, des Verschlingens liegst Du allerdings goldrichtig.

  29. #29 roel
    24. Februar 2012

    @MartinB ergänzend. Es gibt die Beutel fuer Gummiebaerchen auch in 30µm O-PP und auch in einigen anderen Dicken. Je nach Marke.

  30. #30 MartinB
    24. Februar 2012

    @roel
    Ja, ich werde dann demnächst mal rumspielen und meine Knistertheorie prüfen.

  31. #31 rolak
    24. Februar 2012

    So, hier nun das versprochene Photo (direkt das erste Schrottblatt…) – sieht doch aus wie eine weihnachtliche Laubsägearbeit, oder?