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Die Neurowissenschaften sind eines der komplexesten und interessantesten aktuellen Forschungsgebiete. Hier eine Rezension des Buches “Proust was a Neuroscientist” von Jonah Lehrer. Der Autor schafft es, Brücken zwischen Literatur, Kunst und Musik zu Forschungsergebnissen aus den Neurowissenschaften zu schlagen und diese so anschaulich zu erläutern.


Ich fange deutlich mehr Bücher an zu lesen, als ich tatsächlich beende. Es ist eine Unsitte und hauptsächlich meiner Ungeduld geschuldet, manchmal auch der Qualität der Texte. Das letzte Buch auf meinem Nachttisch hieß Proust was a Neuroscientist von Jonah Lehrer. Ich bin froh, dass ich mich geduldig durch das erste, eher schwache Kapitel gequält habe, danach wurde das Buch beständig besser.

Proust was a Neuroscientist ist ein Buch in acht Kapiteln. Jedes handelt von einem Künstler oder einer Künstlerin, dessen oder deren Ideen, Wirken und Werke bestimme Ergebnisse und Erkenntnisse der Neurowissenschaften und der Gehirnforschung vorausgesehen zu haben scheinen, oder zumindest illustrativ taugen. Dieser rote Faden, der sich mehr oder weniger geradlinig durch die knapp 200 Seiten zieht macht das Buch unterhaltsam und lehrreich zugleich. So sollen populärwissenschaftliche Bücher sein.


Lehrer nutzt Walt Whitman um über die Untrennbarkeit von Körper und Geist zu referieren, Paul Cézanne um zu erklären, wie das menschliche Gehirn visuelle Reize verarbeitet. Auguste Escoffier, der Erfinder der Bouillon, wird zum Entdecker eines neuen Geschmackssinns, Igor Stravinskys Sacre du Printemps dient der Illustration der Wahrnehmung und neuronalen Verarbeitung von Musik. Gertrude Steins eigene Art zu schreiben (eine Rose ist eine Rose ist eine Rose) nimmt die neurowissenschaftliche Entdeckung einer universellen, angeborenen Grammatik vorweg.

Virginia Woolfs psychoanalytische Sezierungen der Gedankenwelt ihrer Protagonisten dient als Hintergrund um die flüchtige, nicht fassbare Illusion einer Realität neurobiologisch zu erläutern, und ein Ausschnitt aus Marcel Prousts Suche nach der verlorenen Zeit (eines der Bücher, die ich nie fertig gelesen habe), in dem es um einen in Tee getauchten Zitronenkekses geht (der Keks hat es bis vorne aufs Buch geschafft), erklärt einerseits die spezielle Reizverarbeitung von Geruch und Geschmack im menschlichen Gehirn und andererseits Prozesse bei der Erinnerung an Vergangenes: “A memory is only as real as the last time you remembered it. The more you remembers something, the less accurate the memory becomes“.

Im ersten Teil der jeweiligen Kapitel werden die Künstler und ihr Werk vorgestellt, im zweiten Teil werden deren Kunstwerke, Thesen und Ideen vor dem Hintergrund neurobiologischer Erkenntnisse und Forschungsergebnisse erläutert. Lehrer schafft es so, mehrfach plausible Brücken zwischen Kunst, den Geisteswissenschaften, und naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zu schlagen. Ein wunderbarer Ansatz, der fast durchweg flüssig gelingt, logisch klingt und nicht konstruiert wirkt.

Auf den letzten Seiten des Buches, in der sogenannten Coda, erklärt Lehrer sein Anliegen: Es geht ihm um die Etablierung einer “dritten Kultur”, einer Synthese zwischen Geistes- und Naturwissenschaften, die sich dann gegenseitig anregen und ergänzen. Eine schöne Vorstellung, die aber nicht nur auf Lehrers Buch und Proust-lesende Naturwissenschaftler beschränkt bleiben sollte, sondern auch bedarf, dass Künstler und Geisteswissenschaftler sich mit der wissenschaftlichen Methodik auseinandersetzen und diese verstehen.

Lehrer kritisiert dann auch direkt den Postmodernismus: “Too often postmodernism – that most inexplicable of -isms – endulges in cheap disavowels of science and the scientific method” und in der Danksagung nennt er Postdocs die “leidenden Künstler des einundzwanzigsten Jahrhunderts“. Was will man mehr.


Proust was a Neuroscientist ist 2008 auf englisch bei MarinerBooks erschienen und kostet bei Amazon 10,50 Euro Jonah Lehrer, der Autor schreibt übrigens das Blog “Frontal Cortex” bei ScienceBlogs.com. Ein Essay von ihm war hier schon mal Thema bei WeiterGen. Lehrers neues Buch heißt How We Decide.

Felix und Uli von Science-Meets-Society haben gerade übrigens eine “Brain Awareness Woche” in ihrem neu gestalteten Blog veranstaltet. Von Artikeln über das Erinnern bis zu Berichten aus dem Kindergarten in Barcelona ist alles dabei.

Kommentare (6)

  1. #1 ali
    22. März 2010

    Ich mochte das Buch gut. Es sind leider nicht alle Kapitel gleich stark wie ich fand. Mir gefielen vor allem die Kapitel zu Escoffier, Proust, Stravinsky und Cézanne. Auf jeden Fall lesenswert (ich schätzte übrigens auch, dass Jonah Lehrer einen zumindest in meinen Augen guten Schreibstil pflegt).

  2. #2 mrbaracuda
    24. März 2010

    Nabend die Herren. Dieser Lehrer?

  3. #3 Tobias
    24. März 2010

    Ja, genau der. Tolle Video-Links, danke.

  4. #4 mrbaracuda
    24. März 2010

    Gerne doch.

  5. #5 Frosch
    31. März 2010

    OT: FreieWelt.net hat eine interessante Debatte Pro/Contra Grüne Gentechnik initiiert:
    https://www.freiewelt.net/nachricht-3846/freiewelt-debatte%3A%3Cbr%3E-gr%FCne-gentechnik-%3Cbr%3Erisiko-oder-rettung%3F.html

  6. #6 Thilo Kuessner
    2. April 2010

    Weiß jemand, ob der NYT-Artikel vom 1.4. https://www.nytimes.com/2010/04/01/books/01lit.html?partner=rss&emc=rss ernstgemeint oder ein Aprilscherz war?