Der Untertitel “The Making of a Modern Disease” – wie eine moderne Krankheit gemacht wird – hatte meine Aufmerksamkeit für diesen Artikel im aktuellen New Yorker gefangen. Krebs, eine Krankheit, die wir uns gemacht haben? Vielleicht nicht die Krankheit selbst, obwohl Umweltgifte und karzinogene Konsum-Sünden gewiss eine große Rolle spielen. Aber vor allem ist die Verbreitung von Krebs heute auch eine Funktion davon, wie viele andere (und für frühere Menschheitsgenerationen viel bedrohlichere) tödliche Krankheiten wir so weit zurück gedrängt haben, und um wie viel wir heute älter werden als beispielsweise unsere Vorfahren noch vor hundert Jahren – beides scheint die Wahrnehmung (und Wahrscheinlichkeit) zu begünstigen, dass Krebs eine moderne Zivilisationskrankheit ist. Der Artikel ist im Wesentlichen eine Rezension des Buches The Emperor of all Maladies: A Biography of Cancer des Krebsspezialisten Siddharta Mukherjee, das am 16. November in den USA erscheinen wird; geschrieben wurde der Artikel vom Harvard-Wissenschaftshistoriker Stephen Shapin. Und es geht ihm nicht nur darum, dass Krebs unser Leben verändern kann, sondern auch das Leben ohne Krebs heute ganz anders wahrgenommen wird:

This is the world of the cancer “risk factor”: of the Pap smear; the annual mammogram; the prostate-specific antigen test; the colonoscopy; the wait for the results of biopsies of polyps removed in the colonoscopy; the daily dose of Prilosec taken because frequent heartburn is thought to be a risk factor for esophageal cancer; even the world of knowing one’s personal genome and the world of the prophylactic mastectomy.
The risk-factor world holds out hope for avoiding cancer while recruiting masses of us into the anxious state of the “precancerous.”

Und dieser Zustand einer permanent vom Krebs terrorisierten Gesellschaft, so fürchtet Shapin, sei eine sehr ernst zu nehmende Gefahr:

A world in which cancer is normalized as a manageable chronic condition would be a wonderful thing, but a risk-factor world in which we all think of ourselves as precancerous would not. It might decrease the incidence of some forms of malignancy while hugely increasing the numbers of healthy people under medical treatment. It would be a strange victory in which the price to be paid for checking the spread of cancer through the body is its uncontrolled spread through the culture.

flattr this!

Kommentare (2)

  1. #1 SteterTropfen
    6. November 2010

    Die Beobachtung ist interessant und sicher korrekt. Nur, darf man den Wissenschaftlern die gesellschaftliche Rezeption ihrer Erkenntnisse über Risikofaktoren vorwerfen? Erst kommmt ja die Suche nach den Ursachen, dann das Verständnis und dann evtl. die Therapie.

    Werden hier evtl. verschiedene Ebenen vermischt?

  2. #2 Jürgen Schönstein
    6. November 2010

    Ich sehe das nicht als einen Vorwurf an die Wissenschaft. Aber die “gesellschaftliche Rezeption” fällt sicher in den Zuständigkeitsbereich der medizinischen Praxis. Die überlappt sich aber sowieso nur teilweise (je nach Qualifikation des Arztes ist dieser Überlappungsbereich mehr oder weniger groß) mit der medizinischen Forschung, da Ärzte im Allgemeinen auch mit den “menschlichen” (sozialen, ökonomischen, privaten etc.) Problemen ihrer Patienten umgehen müssen, die eine medizinisch-technische Forschung weitgehend ausklammern kann und vermutlich auch muss (ich nehme an, das sind die “verschiedenen Ebenen”, von denen Du sprichst). Das Problem ist, einen Mittelweg zwischen sinnvoller und umfassender Risikovorbeugung (wozu auch Aufklärung gehört) einerseits und andererseits der medizinisch anhand der bekannten Risikodaten sicher berechtigten Einschätzung zu finden, dass jeder “Gesunde” letztlich nur ein potenzieller Kranker ist.