Ein echtes Stück aus dem Tollhaus liefert derzeit die italienische Justiz. Weil sie ein Erdbeben nicht rechtzeitig vorhersagen konnten, hat die Staatsanwaltschaft in L’Aquila Ermittlungen gegen sieben Wissenschaftler des Nationalen Instituts für Geophysik und Vulkanologie aufgenommen – wegen fahrlässigen Totschlags in mehr als 300 Fällen…

Der britische ‘Independent’ berichtet:

Seven Italian officials are under investigation for manslaughter for failing to give the citizens of L’Aquila warning before last April’s earthquake. The disaster killed more than 300 people and razed the medieval city to the ground.

Hintergrund der Ermittlungen ist eine am 31. März 2009 abgegebene Einschätzung der Wissenschaftler, dass eine Serie kleinerer Erdbeben, die sich im März in der Region um L’Aquila ereignet hatten, nicht als Vorbote eines noch bevorstehenden, größeren Bebens zu werten sei (Wörtlich: “There is no reason to suggest that the sequence of low-magnitude tremors are a precursor to a major event”). Knapp eine Woche später – am 6. April 2009 – forderte ein schweres Erdbeben der Stärke 6.3 über 300 Todesopfer. Schuld an der hohen Opferzahl ist nach Ansicht von Chefstaatsanwalt Rossini besagte Expertengruppe:

“Those involved were highly qualified individuals who should have provided the public with different answers” said L’Aquila’s chief prosecutor, Alfredo Rossini. “It was not the case that we received no warning, because there had already been tremors. However, the advice given was that there was no need for people to leave their homes”.

Rossini said his office had opened the probe following numerous complaints from members of the public, who had not left their homes that night when the first tremors struck on the basis of that advice. “People died and we could not just ignore this line of investigation” he said.

Sollte die Anklage tatsächlich Erfolg haben tun sich – zumindest in Italien – ganze neue Berufsrisiken für Naturwissenschaftler auf. Wirbelsturm nicht rechtzeitig vorhergesagt? Totschlag. Ausbreitung einer Seuche falsch eingeschätzt? Gefängnis. Offenbar wieder mal ein klassisches Beispiel dafür, dass die Sprache der Wissenschaft nicht überall verstanden wird – insbesondere wenn es um Wahrscheinlichkeiten geht…

Die Krone wird dem ganzen Schauspiel durch die Tatsache aufgesetzt, dass die italienische Justiz im vergangenen Jahr gegen einen anderen Geologen vorgegangen ist, der vor einem Erdbeben in der Region gewarnt hatte (und dabei nur eine knappe Woche daneben lag):

Giuliani was forced to take down warnings he had posted on the internet. The researcher had said that a ‘disastrous’ earthquake would strike on March 29, but when it didn’t, Guido Bertolaso, head of Italy’s Civil Protection Agency, last week officially denounced Giuliani in court for false alarm. ‘These imbeciles enjoy spreading false news,’ Bertalaso was quoted as saying. ‘Everyone knows that you can’t predict earthquakes.’

Damned if you do, damned if you don’t…


Gefunden via ScienceBlogger Greg Laden und Earth Magazine

Kommentare (28)

  1. #1 rolak
    17. Juni 2010

    Es bewahrheitet sich wohl doch: Die spinnen, die Römer!

  2. #2 Stefan Taube
    17. Juni 2010

    Hmm, also ich finde den Blogpost etwas widersprüchlich. Es scheint doch nicht so zu sein, dass die Geologen angeklagt werden, weil sie ein Erdbeben nicht vorhergesagt haben, sondern weil sie vorhandene Anzeichen für ein Erdbeben falsch eingeschätzt haben. Das ist schon ein Unterschied oder habe ich das was falsch verstanden?

  3. #3 Christian Reinboth
    17. Juni 2010

    @Stefan Taube: Ich habe zu dem Fall bis jetzt auch nicht mehr als zwei Zeitungsberichte gefunden – soweit ich es richtig verstanden habe, stellt sich der Sachverhalt in etwa so dar, dass die Geologen, gegen die nun ermittelt wird, eine Einschätzung zu den leichten Erdstößen abgeben sollten, die in den Wochen vor dem großen Erdbeben in der Region beobachtet werden konnten. Die Einschätzung schien vom Tenor her etwa die zu sein, dass (a) leichte Erdstöße nicht unbedingt als Vorzeichen für ein großes Erdbeben zu gelten haben und (b) die besagte Region sicher irgendwann auch wieder ein schweres Erdbeben durchmachen würde, es aber unwahrscheinlich sei, dass dieses unmittelbar bevorstünde. Und da Erdbeben im Grunde nicht vorhersagbar sind und ihr Eintreten zu jedem gegebenen Zeitpunkt eher unwahrscheinlich ist…

    Den Leuten deshalb Totschlag vorzuwerfen, finde ich schon skandalös, zumal das ja impliziert, dass man bei einer entsprechenden Warnung das Gebiet evakuiert hätte (und für wie lange?), während ja aber der ganz unten verlinkte Fall des Geologen, der tatsächlich eine konkrete Warnung abgebenen hat (und damit – Zufall oder nicht – letztendlich richtig lag) ja eine ganz andere Sprache spricht…

  4. #4 Stefan Taube
    18. Juni 2010

    Okay, hab’s kapiert. Um einen Vergleich mit der Medizin zu machen: Es ist ein Unterschied, ob ein Arzt eine Prognose macht, woran ich bei meinem Lebensstil sterben könnte oder ob er eine Diagnose macht, um eine vorhandene Krankheit zu erkennen. Wenn er im Fall der Prognose daneben liegt, kann man ihn natürlich nicht belangen, wenn der Arzt bei der Diagnose versagt, ist es aber ein Kunstfehler.

    Ähnlich ist es auch mit den erwähnten Wirbelsturm. Man kann ein Unwetter nicht konkret prognostizieren, aber wenn es da ist und die Meteorologen berechnen seine Stärke und Flugbahn falsch, sind sie schon irgendwie haftbar finde ich. Ähnlich wie ein Architekt, dem der Neubau einstürzt, oder?

    Inwiefern diese Analogien übertragbar sind, kann ich überhaupt nicht beurteilen, da ich kein Geologe bin. Mir ging es nur um die unterschiedliche Logik des Arguments.

  5. #5 kamy
    18. Juni 2010

    @Stefan
    Nein, auch die Vorhersage des Verlaufs eines Wirbelsturms kann nur höchst ungenau vorhergesagt werden. Den Pfad eines Hurrikans werden mit Verlaufs-Wahrscheinlichkeiten angegeben. Einen Tornado kann man so gut wie gar nicht vorhersagen. Also irgendjemand dafür haftbar zu machen ist geradezu absurd.
    Prognosen sind IMMER unsicher. Das sollte zur Allgemeinbildung gehören – ist es aber, zumindest bei so manchem Italienischen Richter, anscheinend nicht.

  6. #6 Christian Reinboth
    18. Juni 2010

    @Stefan Taube:

    Ähnlich ist es auch mit den erwähnten Wirbelsturm. Man kann ein Unwetter nicht konkret prognostizieren, aber wenn es da ist und die Meteorologen berechnen seine Stärke und Flugbahn falsch, sind sie schon irgendwie haftbar finde ich. Ähnlich wie ein Architekt, dem der Neubau einstürzt, oder?

    Gute Frage. Im Prinzip kann man die Bewegungen eines Wirbelsturms ja – zumindest meines Wissens nach – auch nur ungefähr vorhersagen. Wenn sich daraus gleich eine Haftung ergeben würde… Vielleicht weiß ja jemand mehr…

  7. #7 Ronny
    18. Juni 2010

    Ich frage mich nur: Was wäre passiert hätten die Geologen gewarnt ?
    Nichts vermutlich.

  8. #8 Christian Reinboth
    18. Juni 2010

    @Ronny:

    Ich frage mich nur: Was wäre passiert hätten die Geologen gewarnt?

    Das kommt noch dazu. Ein Geologe hatte ja tatsächlich gewarnt und diese Warnung auch öffentlich gemacht und ist dafür gerade mal ein paar Tage vor dem Beben ebenfalls vor Gericht gelandet – wegen Panikmache und Verunsicherung. Zudem stellt sich die Frage, was man getan hätte, wären sich alle Geologen am 31. März einig gewesen, dass ein schweres Erdbeben bevorsteht? Die ganze Region evakuiert? Und dann? Spätestens am dritten oder vierten Tag ohne Beben wären doch die Forderungen laut geworden, die Räumung wieder aufzuheben – schließlich kann man ein Gebiet mit mehreren hunderttausend Einwohnern nicht dauerhaft evakuieren – und eine auf den Tag und die Stunde genaue Prognose wird ja hoffentlich auch kein italienischer Richter erwarten…

  9. #9 Georg Hoffmann
    18. Juni 2010

    @Stefan
    “Man kann ein Unwetter nicht konkret prognostizieren, aber wenn es da ist und die Meteorologen berechnen seine Stärke und Flugbahn falsch, sind sie schon irgendwie haftbar finde ich. Ähnlich wie ein Architekt, dem der Neubau einstürzt, oder? ”

    Nein, auch dann nicht. Absolut nicht und zwar aus einer Reihe von Gruenden.

    1) “Unwetter” hat im Wort schon etwas mit dem Impact zu tun. Der aber hat mit Deteils einer meteorologischen Vorhersage zu tun, die ausserhalb der Reichweite auch der heutigen Vorhersagen sind. Der Schaden eines Sturms geht mit der dritten oder vierten Potenz der Windstaerke. Ein “Fehler” zwischen 180 und 200 km/h ist also enorm, meteorologisch aber nicht gut genug vorherzurechnen.Gleiches gilt fuer die Laufbahn.

    2) Eine Katastrophenmeldung (bei Unwetter oder Erdbeben) hat Konsequenzen (ie Kosten), ob die Katastrophe nun so eintritt oder nicht. Angesichts der anfallenden Kosten (von Menschenleben ganz zu schweigen) sowohl bei zutreffender wie bei fehlerhafter Warnung und der wissenschaftlichen Unsicherheit der Aussagen wuerde absolut niemand mehr in den entsprechenden Aemtern arbeiten, wenn er haftbar gemacht werden kann.

    Solange also nicht en ganzes Amt fahrlaessigerweise die Computer abgestellt hat und Betriebsfeier macht, waehrend sich ein Hurrikane naehert, sehe ich keinerlei Verantwortung bei den Wissenschaftlern angesichts des grossen stochastischen Elements bei Erdbeben und Unwettern.

  10. #10 Frank Abel
    18. Juni 2010

    Hallo zusammen,

    eine immer wieder brisante Frage, die beispielsweise auch beim Zugspitzlauf damals wieder aufgekommen ist. Es ist auch weniger eine Frage an einen Meteorologen, sondern eher für einen Juristen.

    Bei Prognosen, die etwa an Energiefirmen verkauft werden, wird tatsächlich bei zu großen Abweichungen eine Vertragsstrafe vereinbart, was aber nichts mit Haftbarmachung zu tun hat.

    Ansonsten stimme ich Georg zu, dass man keine grobe Fahrlässigkeit bei Meteorologen nachweisen kann. Vernünftiges Arbeiten wäre, wie dort geschildert, ohnehin dann nicht mehr möglich. Eine Wettervorhersage ist eine Wahrscheinlichkeitsauskunft. Nicht mehr und nicht weniger, was gerade im Servicezeitalter schnell vergessen wird.

    Gruß
    Frank

  11. #11 antiangst
    19. Juni 2010

    Na ja, so einfache Aussaugen wie „unwahrscheinlich“ sind aber schon konkrete Festlegungen. Besser wäre es doch, nur festzustellen, dass in der Vergangen bei bei ähnlichen Situation nur in 1%? ein Erdbeben aufgetreten ist, und besseres weiß man eben nicht.

  12. #12 Sven Türpe
    19. Juni 2010

    “Those involved were highly qualified individuals who should have provided the public with different answers”

    Denselben Vorwurf machen wir derzeit dem Management von BP und dessen Aufsichtsbehörden. Folgt daraus dieselbe Bewertung?

  13. #13 Christian Reinboth
    19. Juni 2010

    @Sven Trüpe: Der wesentliche Unterschied scheint mir hier darin zu bestehen, dass es sich bei BP um den Betreiber der Bohrinsel handelt, deren Havarie zu der Ölleckage geführt hat, d.h. BP in der unmittelbaren Verantwortung für die Katastrophe steht, während die Geologen mit dem Erdbeben an sich ja nichts zu tun haben und es demzufolge auch nicht hätten verhindern können. Bei BP bzw. den zuständigen Aufsichtsbehörden sieht das schon anders aus…

  14. #14 blackice
    19. Juni 2010

    Ich finde es ne Frechheit diesen Leuten Totschlag für eine (bisherige) Unvorhersehbarkeit vorzuwerfen! Soweit ich weiß sind es Wissenschaftler, die viel Zeit und Forschung in ihre Arbeit investieren um Voraussagen überhaupt möglich machen zu können, um dann wiederum Menschenleben zu retten!

    Wenn es schon Menschen gibt, die sich für so etwas interessieren (was denk ich mal jetz nich grad die 0815 Laufbahn ist) und denen dann noch der Job vermiest wird.. na dann frohes schaffen..

    Wissenschaft sollte (sofern sie fördernd ist) so gut es geht unterstützt werden und nicht mit Steinen beworfen werden..

  15. #15 Wolfgang Flamme
    19. Juni 2010

    Meine erste Reaktion war auch die spontane Fassungslosigkeit angesichts des Vorwurfs. Aber dann habe ich auch ein wenig nachgedacht, zB über folgende Szenarien:

    Ein Ing.-Büro erhält längere Zeit vor dem Beben den Auftrag, die Auswirkungen von Beben verschiedener Stärke für die Ortschaft abzuschätzen. Für ein starkes Beben der Stärke 6,3 kommt die Studie zu dem Schluß, daß es zwar vereinzelt zur Desintegration nichttragender Teile und infolgedessen zu vereinzelten Unglücksfällen kommen könne, daß es aber unwahrscheinlich sei, daß tragende Gebäudebestandteile kollabierten und zahlreiche Verletzte zu beklagen seien.
    Und dann rummst es eben.

    Bei meiner Einschätzung der fiktiven Sachlage habe ich zuallererst feststellen können, daß meine Wahrnehmung hier von empörter Zurückweisung jedes Haftungsanspruchs zum Anfangsverdacht umgeschwenkt ist – die Wissenschaftler haben sicher ihr Möglichstes getan, aber das Ing.-Büro hat vermutlich irgendwie versagt. Und der Eindruck blieb, obwohl ich in der fiktiven Analyse vorsätzlich nur qualitative Aussagen und wortgleiche Wahrscheinlichkeitsaussagen (“es aber unwahrscheinlich sei”) verwendet habe und mir dessen auch bewußt war.

    Das ist doch schonmal merkwürdig, dieser Wechsel in meiner spontanen Auffassung. Liegt es womöglich darin begründet, daß wir der Natur einen größeren Hang zur Willkür zubilligen und der Natur-Wissenschaft entsprechend ein größeres Maß an Nichtwissenkönnen?

    Ich wollte meine innere Einstellung nochmal beproben und habe das Szenario erweitert: Sowohl bei den angeklagten Wissenschaftlern als auch bei der fiktiven Ing.-Studie stellt sich heraus, daß der Aussage ein handwerklicher Fehler – sagen wir einfach mal, ein Rechenfehler – zugrundelag. Was verändert sich jetzt und warum?

  16. #16 peer
    20. Juni 2010

    @ Wolfgang Flamme:
    Die Statik oder Erdbebensicherheit eines Gebäudes kann sehr viel objektiver und genauer eingeschätzt werden als die Wahrscheinlichkeit eines Erdbebens. Die wissenschaftlichen Grundlagen der Statik sind alle bekannt und alle notwendigen Daten im Prinzip messbar – vielleicht nicht mit schlafwandlerischer Sicherheit, aber zumindest von der Größenordnung her.
    Erdeben dagegen vorherzusagen ist schlicht unmöglich.Zu wenig weiß man noch über die Zusammenhänge und selbst wenn man die wüsste, ergibt sich noch das problem die Messdaten im Erdinneren zu bekommen.

    Während also das Ing.-Büro durchaus haftbar gemacht werden kann (zumindest partiell – wäre das Beben sehr viel stärker oder kämen unvorhersehbare Effekte hinzu siehts vielleicht auch anders aus), weil sie eben nicht ihre Möglichkeiten genutzt haben, sind Erdbebenforscher nicht haftbar – man kann nicht belangt werden, weil man etwas Unmögliches nicht tun konnte (zumindest nicht nach deutschem Recht)

    Soweit ich den Artikel übrigens verstanden habe, stehen die Geologen nicht vor Gericht (ein Richter hat also nix damit zu tun), es wird “nur” gegen sie ermittelt. Kann also sehr gut sein, dass es gar nicht zur Anklage kommt.

  17. #17 Wolfgang Flamme
    20. Juni 2010

    @peer

    Ja richtig, das war ja auch meine spontane Vermutung, daß man der Natur deutlich mehr Unberechnenbarkeit zubilligt. Deshalb ja die Weiterführung beider Szenarien: Die Fehleinschätzung geht in beiden Fällen auf einen Rechenfehler zurück. Und dann?

  18. #18 Christian Reinboth
    21. Juni 2010

    @Wolfgang Flamme: Der Unterschied liegt m.E.n. darin, dass man die Wahrscheinlichkeit eines Erdbebens – im Gegensatz zur Stabilität einer Wand bei einem Erdstoß – eben nicht berechnen kann und insofern auch kein Rechenfehler vorstellbar ist, der zu einer falschen Prognose führt. Der Einschätzung der Wissenschaftler, dass kleine Erdstöße nicht als sicheres Vorzeichen eines größeren Erdbebens zu werten sind, dürfte ja vermutlich keine Berechnung sondern einfach nur die Erkenntnis zugrunde liegen, dass eben kleine Erdstöße kein sicheres Vorzeichen für ein größeres Erdbeben sind.

    Insofern scheint mir doch die Ausgangsbasis eine ganz andere zu sein, als bei dem hypothetischen Architekten, der seine Berechnung vergeigt…

  19. #19 Sven Türpe
    23. Juni 2010

    Die Wahrscheinlichkeit eines Erdbebens ist 1.

    SCNR.

  20. #20 Wolfgang Flamme
    24. Juni 2010

    Christian,

    zunächst: die Stabilität einer Wand (oder eines Verbundes von Wänden) kann man auch nicht exakt berechnen oder absolut eingrenzen, höchstens mit Unsicherheiten abschätzen. Ganz bestimmt sind schon Wände eingebrochen, ohne ausreichend starke Ursache, von denen man es nicht vermutet hätte.

    Hättest Du recht, so wären zB im Automobilbau Crashtests und Überschlagstests und Dummies etc überflüssig, zumal die Testobjekte und Testbedingungen da doch präzise und umfassend technisch spezifiziert sind.

    Also bzgl. der Ingenieursseite ist eine solche Grundauffassung unbedingter Berechenbarkeit schonmal infragezustellen. Wie sieht es mit der wissenschaftlichen Seite aus?

    Ich bin Laie, aber es sieht so aus, als habe der Begriff ‘Vorbeben’ doch geologische Bedeutung:

    https://geol43.uni-graz.at/08S/650136/Scholz_7_12.png
    (geol43.uni-graz.at/08S/650136/erdbeben.html)

    Aber gut, das ist nur eine Seite der Medaille; Fälle, in denen man hinterher merkte, daß man besser vorher klüger gewesen wäre.

    dürfte ja vermutlich keine Berechnung sondern einfach nur die Erkenntnis zugrunde liegen, dass eben kleine Erdstöße kein sicheres Vorzeichen für ein größeres Erdbeben sind.

    Kleinere Erdstöße wären dann aber auch kein sicheres Vorzeichen für das Nichtbevorstehen eines größeren Erdbebens – in diesem Fall wäre eine wissenschaftlich korrekte Antwort ein hilfloses Achselzucken gewesen.

    Gehen wir fairerweise mal davon aus, daß kleinere Beben rein gar nichts darüber aussagen können, ob ein noch größeres Beben unmittelbar bevorstehe. Im Falle kleinerer Beben kann man dann also auf welche Risikoveränderung schließen?

    Auf keine. Die Wahrscheinlichkeit für ein größeres Beben wäre nach der Beobachtung kleinerer Beben dann weder größer noch kleiner als zuvor geworden, sie wäre einfach unverändert hoch (oder niedrig, mittel, je nachdem). Den übrigen Grafiken der Webseite zufolge in Italien wohl eher hoch. Das war wohl etwas unglücklich, diese gespannte Situation in Verbindung mit ‘unwahrscheinlich’ zu bringen – falls es denn tatsächlich so kommuniziert wurde.

    Die Frage, warum wir spontan Unsicherheiten so unterschiedlich bewerten, obwohl doch auch die ebenso allgegenwärtige Technik mit allerlei unvorhersehbaren Überraschungen aufwartet, ist damit noch immer nicht abschließend beantwortet.

  21. #21 Christian Reinboth
    24. Juni 2010

    @Wolfgang Flamme: Einfach mal angenommen, in der Region sei ein stärkeres Erdbeben alle 30 Jahre zu erwarten und kleinere Beben seien tatsächlich kein Anzeichen für ein bevorstehendes größeres Beben, d.h. die Wahrscheinlichkeit bliebe unverändert. In dem Fall wäre “unwahrscheinlich” ja aber schon die korrekte Antwort auf die Frage, ob mit einem unmittelbar bevorstehenden größeren Beben zu rechnen wäre.

    Wir dürfen nicht vergessen, dass der Vorwurf, der den Wissenschaftlern gemacht wird ja im Grunde der ist, dass sie mit ihrem Urteil eine Evakuierung verhindert hätten. Bei einer Erwartungswahrscheinlichkeit von einem stärkeren Beben alle drei Dekaden und vor dem Hintergrund der mangelnden Aussagekraft der kleineren Beben wäre doch aber die Empfehlung, das Gebiet zu räumen, völlig unhaltbar gewesen – auch wenn es in dem Fall – quasi “zufällig” – Leben gerettet hätte. Würde man in ganz Italien sicherheitshalber so vorgehen, gäbe es vermutlich zigtausende Evakuierungen pro starkem Erdbeben. Viel sinnvoller wäre es, die Siedlungsdichte in gefährdeten Gebieten – falls möglich – niedrig zu halten und entsprechende Bauvorschriften zu erlassen, um den irgendwann eintretenden Schaden soweit möglich zu minimieren, anstatt sich darauf zu verlassen, dass man rechtzeitig evakuieren kann…

  22. #22 Wolfgang Flamme
    25. Juni 2010

    Ja, Christian, das ist richtig, was Du da anführst.

    Und dennoch hätte die Auskunft, ob mit einem bevorstehenden stärkeren Beben zu rechnen sei, ehrlicherweise lauten müssen: “Ja, wie immer in dieser Region und unabhängig von kleineren Beben.”

    Und dafür wäre dann wohl auch niemand vor den Kadi gezerrt worden.

    Ich vermute aber mal, daß die Politik genau das nicht hören und der Bevölkerung stattdessen was Beschwichtigendes präsentieren wollte – die Chancen, daß das gutgeht, standen ja auch ganz gut. Leider ging es aber furchtbar in die Hose und nun muß ein möglicherweise Schuldiger ausgeguckt werden.

  23. #23 Christian Reinboth
    25. Juni 2010

    @Wolfgang Flamme: Inwiefern die Aussage, die in den Zeitungsberichten zitiert wird, tatsächlich stellvertetend für die Gesamtaussage des Expertenteams zu den Beben steht (die ja aus mehr als nur einem Satz bestanden haben dürfte), kann ich leider nicht einschätzen. Eventuell werden die tatsächlichen Aussagen ja noch veröffentlicht, sollte es zu einer Anklage kommen – dann kann man den Sachverhalt sicher besser einschätzen…

    Bis dahin vermute ich aber auch, dass genau das passiert ist: Eine unverfängliche Aussage wurde zu einer Beschwichtigung umgedeutelt – und nachdem das nun schiefgelaufen ist, hat die Suche nach einem Schuldigen begonnen…

  24. #24 Wolfgang Flamme
    25. Juni 2010

    @Christian

    Schön, daß wir den wahren Schuldigen schon nach kurzer Diskussion ermitteln konnten 😉

    Es sind natürlich die Betroffenen selber, die betrogen werden wollen. Die Mehrheit der Leute hört eben ungerne, daß sie vielleicht schon in wenigen Stunden zerquetscht oder verstümmelt unter Trümmern liegen. Und wenn der Maggiore Ihnen reinen Wein einschenkt, schwenken sie Transparente, wo “Bürgermeister, tu endlich was!” draufsteht und “Unsere Kinder können nicht mehr schlafen, seit Du uns die Wahrheit gesagt hast!”

  25. #25 Wolfgang Flamme
    28. Mai 2011

    Es ist in dieser Sache tatsächlich zur Anklage gekommen, wie ich gerade auf Matt Briggs’ Blog gelesen habe:
    https://wmbriggs.com/blog/?p=3941

    Interessant ist hier die Begründung:
    According to the Italian daily Corriere della Sera, Gargarella said that the seven defendants had supplied “imprecise, incomplete and contradictory information,” in a press conference following a meeting held by the committee 6 days before the quake. In doing so, they “thwarted the activities designed to protect the public,” the judge said.

  26. #26 Wolfgang Flamme
    29. Oktober 2011

    Ein lesenswerter Kommentar – auch zu ähnlichen Vorkommnissen von Roger Pielke Jr.: Lessons of the L’Aquila Lawsuit
    https://www.ostina.org/content/view/5928/1534/

  27. #27 Christian Reinboth
    4. November 2011

    @Wolfgang Flamme: Vielen Dank für die interessante Ergänzung!

  28. #28 Christian Reinboth
    22. Oktober 2012

    Kaum zu glauben, aber wahr: Die Wissenschaftler sind heute tatsächlich verurteilt worden. Zu mehrjährigen Haftstrafen(!):

    https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/prozess-zu-l-aquila-erdbeben-verurteilt-wissenschaftler-zu-haftstrafen-a-862762.html

    (mit Dank an Florian für den Twitter-Link)