Auf der Strecke München – Rosenheim – Innsbruck wurde vor 150 Jahren die erste Großhesseloher Eisenbahnbrücke gebaut. Die 1857 fertiggestellte Großbrücke gehörte zu den prominentesten Ingenieurbauwerken des 19. Jahrhunderts im Königreich Bayern.

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Die seit 1850 geplante Bayerische Maximiliansbahn sollte München mit dem nächstliegenden Mittelmeerhafen Triest verbinden und den Transitverkehr aus Ungarn mit seinen Getreidelieferungen durch Bayern führen, um die aufkeimende bayerische Wirtschaft, den Handel und die Industrie international konkurrenzfähig zu machen. Der erste Streckenabschnitt München – Großhesselohe war bereits am 24. Juni 1854 fertiggestellt. Auf der folgenden, 63 Kilometer langen Strecke bis Rosenheim, die am 21. Oktober 1857 eingeweiht werden sollte, war vor allem das tief eingeschnittene Isartal bei Großhesselohe zu überwinden. Nach Rosenheim zweigte eine Strecke nach Salzburg und eine andere nach Innsbruck ab. Auf dem Abschnitt nach Innsbruck folgten die Eröffnungen der Teilstrecken Rosenheim – Kufstein am 5. August 1858, Kufstein – Innsbruck am 24. November 1858 und schließlich die Eröffnung der Brennerbahn Innsbruck – Bozen im Jahre 1867.

Das Jubiläum der ersten Brücke war der Anlass, auch die Herkunft des Linsenträgers etwas näher zu untersuchen, dessen Name seiner Form geschuldet ist, die dem Profil einer Linse oder eines Fischbauches gleicht. Statisch gesehen nimmt bei diesem Trägersystem der gekrümmte Obergurt die Druckkräfte, der Untergurt die Zugkräfte auf. Die Spannung in­nerhalb des Fachwerkträgers bleibt auch unter Belastung gleich, denn er ist in der neutralen Achse gelagert. Erst seit der massiven Verbreitung dieser Trägerform in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch Friedrich August von Pauli, über den noch zu reden sein wird, wurde sie auch unter dem Namen »Pauliträger« bekannt.

Wie so viele technische Neuerungen ist auch die Idee für einen Linsenträger erstmals in den Zeichnungen Leonardo da Vincis (1452-1519) im Codex Atlanticus festgehalten. Ob ein solcher Träger in Leonardos Zeit jemals gebaut wurde, wissen wir nicht, doch er scheint nicht zum Standartrepertoire der Brückenbauer zu gehören, als etwas später Andrea Palladio (1508-1580) 1570 seine Vier Bücher zur Architektur veröffentlicht und dort zwar Fachwerk- aber keine Linsenträger zeigt. Erst ein Jahrhundert nach den Skizzen Leonardos erscheint eine zweite grafische Darstellung in den 1616 von Faustus Verantius in Ve­nedig veröffentlichten Machinae novae, ein Werk, in dem auch grundlegende Lösungen für Brückenträger angeboten werden, darunter ein Fachwerk- und ein Linsenträger aus Holz, die sehr kunstvoll zusammengefügt sind.

Erst weitere zweihundert Jahre später befassten sich Ingenieure und Mathematiker, aber auch Unternehmer wieder mit dieser Trägerform. Es ist Claude Navier (1785-1836) der sich 1826 als Erster theoretisch mit diesem Träger beschäftigt und nur wenig später, 1829 studiert Prosper Débia (1791-1876) ebenfalls seine statischen Eigenschaften. So ist es denn auch nicht weiter erstaunlich, dass eine der ersten Eisenbahnbrücken die Linsenform aufnimmt: Die Stockton-Darlington-Linie in England überquert auf einem Streckenabschnitt den Gaunless-River. Dort lässt Robert Stephenson 1825 eine Brücke mit vier Linsenträgern aus Gusseisen bauen. Die Spannweiten sind mit 13 Fuß, also etwa vier Metern, noch vergleichsweise gering, doch Abbildungen in Zeitschriften und Fachbüchern machen diese Brücke populär.

Wirklich bedeutend wurde der hölzerne Linsenträger in Deutschland aber erst durch den Hofarchitekten Georg Ludwig Friedrich Laves (1788-1864) aus Hannover. Laves unternahm in seinen jungen Jahren – wie so viele seiner wissbegierigen Zeitgenossen – eine Englandreise, auf der er 1834 Isambard Kingdom Brunel (1806-1859) und dessen Vater Marc (1769-1849) traf, die ihn wesentlich beeinflussten und mit denen er auch später in engem Briefkontakt blieb. In einem Brief an Moller vom 30.08.1834 stellt Georg Ludwig Friedrich Laves mit einer kleinen Skizze seine erste Idee für die Stadtgrabenbrücke in Hannover dar, die er bauen sollte: Die Skizze zeigt einen Holzbalken, der mit Draht unter- und überspannt ist, also streng genommen noch keinen Linsenträger, dessen Obergurt ja Druck aufnehmen soll, sondern eher einen durch Spanndrähte verstärkten Balken. Doch schließlich gelingt Laves der Bau der Stadtgrabenbrücke in Hannover im Dezember 1835 mit einem hölzernen Linsenträger mit damals unglaublichen 29,91 Metern Spannweite. Seine Erkenntnisse aus diesem und folgenden Bauten schildert Laves in seinem 1839 in Hannover veröffentlichten Werk Über die Anwendung und den Nutzen eines neuen Construktionssystems nebst erläuternder Beschreibung, in dem die Stadtgrabenbrücke von Hannover besonderes ausführlich erörtert wird. Eine echte Kuriosität ist eine linsenförmige Naturbrücke aus Ästen, die Laves 1842 vor dem Mausoleum des Grafen von Alten in Wilkenburg bei Hannover mit einer Spannweite von 12 Hannoverschen Fuß (3,60 Meter) entworfen und gebaut hat.

In diesem Zusammenhang verdient nun nicht nur das Werk, sondern auch das Leben von Friedrich August von Pauli Beachtung, der am 6. Mai 1802 bei Worms als Sohn aus einer Pastorenfamilie geboren wurde. Schon mit 15 Jahren verließ er das Gymnasium und machte sich für einige Jahre nach Großbritannien auf. In Manchester unternahm er eine Ausbildung zum Mechaniker. Zurück in Deutschland beginnt er 1821 ein Mathematikstudium an der Universität Göttingen. Vier Jahre später besteht er die Prüfung für den bayerischen Baudienst. Obwohl man in ihm zuvor bereits den Nachfolger von Joseph von Fraunhofer (1787-1826) an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gesehen hatte, entschied er sich schließlich für die Baukunst. Als Oberingenieur kommt er daher zur Obersten Baubehörde Bayerns, wird Professor an der Universität München und Leiter der Polytechnischen Schule. 1843 und 1844 reist er erneut nach Großbritannien. Schon ab 1841 arbeitet er an der Ludwigs-Nord-Südbahn und übernimmt 1852 bis 1860 auch die Leitung der Strecke München – Rosenheim – Salzburg. Er gilt damit als »Schöpfer der Bayerischen Staatseisenbahnen«. Seine ersten Bauten sind Holzbrücken nach dem System Howe, wie etwa die Illerbrücke in Kempten, die 1851 fertiggestellt, 1880 verstärkt und 1906 nach dem Bau der neuen Betonbrücken zur Fußgängerbrücke umgewidmet wurde. Auf Unternehmerseite arbeitet Pauli eng mit der Eisenbaufirma Klett & Co. aus Nürnberg zusammen, die durch den Bau der Schrannenhalle (1852) und des Glaspalastes (1854) in München bekannt geworden war und in der Folge auch viele von Paulis Brücken bauen sollte. Schließlich wird Pauli seiner Verdienste um das Eisenbahnwesen in Bayern wegen 1847 in den persönlichen Adelsstand erhoben. Er stirbt am 26. Juni 1883 in München.

Der zweite Protagonist der Großhesseloher Brücke ist ein Mitarbeiter Paulis, Heinrich Gerber (1832-1912), der in Hof geboren wurde. Dort besuchte er die Gewerbeschule, an der sein Vater als Zeichenlehrer arbeitete. Er beginnt das Studium an der Polytechnischen Schule in Nürnberg mit Schwerpunkt Bauwesen, das er 1851 in München abschließt. Bis 1856 arbeitet er bei der Bayerischen Staatsbahn und beendet dort sei­ne Ausbildung 1856 mit der zweiten Staatsprüfung, dem Bayerischen Staatskonkurs. Beim Bau der Großhesseloher Brücke leitete Gerber zuerst nur den Bau der Gerüste, erst später arbeitet er beim Bau der Eisenträger eng mit Friedrich Werder von der Firma Cramer-Klett zusammen und tritt 1858 selbst in das Unternehmen ein. Gerbers Tätigkeiten sind im Gegensatz zu Paulis sehr viel mehr un­ternehmerischer und technischer Natur. So erwirbt er 1866 ein Patent auf einen Gelenkträger, der seinen Namen tragen wird: Durchlaufträger sind schwer zu berechnen und emp­findlich für Setzungen der Pfeiler, da war der Gerberträger, ein mit Gelenken versehener Auslegerträger, eine praktikable Lösung. Außerdem verwendete er beim Bau der Simbacher Innbrücke 1870 erstmals in Süddeutschland die Caissonbauweise für Fundamente.

Unter der Leitung und mit den Ideen dieser beiden Protagonisten entstand zwischen 1851 und 1857 nun auch die Großhesseloher Brücke. Der ursprüngliche Plan von 1850 sah auf Wunsch von König Maximilian II. eine Eisenbahnbrücke vor, über die seitlich ein Reitweg führen sollte. Für den Bau und dessen Finanzierung wurde 1850 der »Privat-Eisenbahn-Verein« gegründet, der außerdem die Planung übernehmen sollte. Die ersten Überlegungen waren zwar von den Erfahrungen beim Bau der gerade 1851 vollendeten Göltsch- und Elstertalbrücken beeinflusst, zwei riesigen Bogenbrücken aus Ziegelmauerwerk, doch für die Großhesseloher Brücke stand recht schnell fest, dass sie aus Ziegelpfeilern auf Pfahlgründungen mit dazwischen eingehängten Eisenträgern bestehen sollte. Auf beiden Talseiten wurden Dämme errichtet, die das Flussbett der Isar soweit einengten, dass die geplante Brücke mit drei Öffnungen und zwei Pfeilern auskommen konnte. Die Spannweite der Mittelöffnung sollte 34,4 Meter, die der beiden Seitenöffnungen 26,6 Meter betragen. Der Bau der Pfeiler wird vehement vorangetrieben und auch am Entwurf der Träger wird gearbeitet.

Noch während der Aufmauerung der Pfeiler führte die extreme Einengung der Isar an den Ufern bei einem Hochwasser am 18. Juni 1853 zur Unterspülung der Pfeiler. Sehr schnell, nämlich am 30. Juni 1863, entscheidet die Eisenbahnbaukommission über den Abbruch des linksseitigen Brückenlagers und des unterspülten Pfeilers, über die Öffnung des Profils und die Einführung eines zusätzlichen Pfeilers. Die Arbeiten werden im Winter 1853/54 mit bis zu über 1500 Arbeitern wei­tergeführt. Doch zwischen November 1855 bis Herbst 1856 kamen die Bauarbeiten we­gen der unklaren Entwurfslage für die Träger prak­tisch zum Erliegen, bis 1856 Pauli zum Direktor der Obersten Baubehörde ernannt wurde. Schon am 11. Februar 1857 nahm er die Firma Klett für die Eisenträger unter Vertrag, und nach dem Baubeginn am 3. Juli 1857 sind die Arbeiten an den Trägern schon Ende September abgeschlossen. Stolz weist Pauli später darauf hin, dass die Materialersparnis seiner gegenüber anderen gängigen Trägern 30 Prozent beträgt.

Die Geschichte vom Bau der Großhesseloher Brücke zeigt, wie sehr ein Großbauwerk auch in Politik und Wirtschaft seiner Zeit eingebunden ist, und wie die Protagonisten des Baus mit ihren individuellen Fähigkeiten und ihren ganz besonderen Lebenszielen dazu beitragen, ein Meisterwerk zu schaffen, das über seine Zeit hinaus wirken kann.

— Dr. Dirk Bühler, Kurator der Abteilung Bauwesen des Deutschen Museums.

Einen Ausführlichen Artikel gibt es in der Zeitschrift Kultur&Technik, Ausgabe 2/2008.

Kommentare (4)

  1. #1 Askan HERTWIG
    Mai 23, 2012

    Habe mich gefreut über den informativen Artikel. Die Kontakte Laves/Brunel und Pauli/England werden zwar erwähnt, aber es wäre interessant zu erfahren, ob und wenn ja welche Verbindung es gab zwischen Pauli (Grosshesseloher Brücke, 1857) und Brunel (Royal Albert Bridge, Saltash, 1859), da beide Brücken Linsenträger hatten.
    Grüße
    Hertwig

  2. #2 Bernhard Weidemann
    Mai 25, 2012

    Hallo, Herr Hertwig,
    es freut mich, dass Ihnen der Artikel zur Grosshesseloher Brücke gefallen hat ! Von einer direkten Beziehung zwischen Pauli und Brunel ist mir aus der Literatur nichts bekannt, man müsste in beider Briefwechsel suchen, um eine sichere Antwort geben zu können. Bestimmt kannte aber Brunel die Schriften, Bauten und die statischen Modelle Paulis und hat sie beim Bau der Saltash-Brücke verwendet, auch wenn er ja Röhren und keine zusammengesetzten Eisenprofile für die Träger verwendet hat.
    Viele Grüße,
    Dirk Bühler.

  3. #3 Christoph Oldenbourg
    Februar 3, 2013

    Weniger ein Kommentar als eine Anfrage:
    Gibt es irgendwo noch Photos von der alten Brücke, wie sie – wie gestrandete Wale – im Flußbett der Isar liegt?
    Ich lebte damals im Ausland und habe sie auf einem Besuch dort liegen sehen ohne eine Chance zu bekommen sie zu photographieren, was ich bis heute bereue . . .