Der Psychiater und Kunsthistoriker Hans Prinzhorn (1886-1933) trug von 1919 bis 1921 in Heidelberg fast 5000 künstlerische Werke zusammen, die etwa 435 Patienten psychiatrischer Anstalten im deutschsprachigen Raum zwischen 1845 und 1920 geschaffen haben. Nachdem die Nationalsozialisten Teile der Sammlung für die Feme-Ausstellung „Entartete ‚Kunst'” missbraucht und vernichtet hatten, wird diese seit den 1980er-Jahren wissenschaftlich aufbereitet und wächst auch wieder. Bilder eines Opfers der NS-Rassenhygiene, der sein Schicksal vor seinem Tod künstlerisch verarbeitete, waren bisher nicht bekannt gewesen.

(Repros: Sammlung Prinzhorn, Heidelberg)
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Doch im Museum der Sammlung Prinzhorn wird ab dem 18. März 2010 in Heidelberg ein sensationeller Kunstfund ausgestellt. Zum ersten Mal ist die Zeichnungsserie des von den Nationalsozialisten 1940 ermordeten und zwischen 1934 und 1938 mittels Durchtrennung der Samenleiter zwangssterilisierten Psychiatrieinsassen Wilhelm Werner (1898-1940) ausgestellt. Dieser offenbart als malender Zeitzeuge auf 30 Blättern Phantasien über sein Martyrium in der „Heilanstalt Werneck” in der Nähe des unterfränkischen Schweinfurts.

„Vor zwei Jahren wurden mir die Zeichnungen von einem Ehepaar gezeigt. Sie waren mit Bleistift auf den Rückseiten eines Auftragsbuches ausgeführt und in schlechten Zustand. Erst Ende 2008 erkannte ich den besonderen historischen und künstlerischen Wert der Blätter und erwarb sie für die Sammlung”, sagt der Leiter des Museums, Thomas Röske.

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Da der Künstler den Buchdeckel und seine erste Zeichnung mit seinem Namen versah, konnte anhand des Aufnahmebuches von Werneck rekonstruiert werden, dass der 1898 geborene Wilhelm Werner, 1919 mit der Diagnose „Idiotie” in die Psychiatrie eingeliefert, der Autor war. Er war ledig, katholisch und hatte keinen Beruf. Da seine Krankenakte verloren ging, steht nur fest, dass er am 6. Oktober 1940 mit anderen Patienten aus Werneck in die Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein gebracht und dort im Rahmen der NS-Euthanasieaktion „T4″ durch Einsatz von Gas ermordet wurde. Seine Zeichnungen überdauerten jedoch, weil sie ein Verwaltungsangestellter der Anstalt Werneck an sich nahm und später an seine Tochter weitergab. „Fasziniert hat er die Bilder immer wieder im privaten Kreis gezeigt, deshalb sehen sie so mitgenommen aus”, erklärt Röske. An der Diagnose „Idiotie” (schwerster Grad der damals gebräuchlichen Diagnose „Schwachsinn”) sind Zweifel angebracht. Jedoch kann aus der Sicht von heute über die „richtige” Diagnose nur spekuliert werden: Möglicherweise war Werner gehörlos oder „autistisch”.

In den eindrücklich-erschütternden Zeichnungen, die sich besonders für die historische Arbeit mit Schülern eignen, beschäftigt sich Wilhelm Werner mit seiner Sterilisation, die er als „STERELATION” bezeichnet. Sich selbst malt er meist als spaßige, aber passive Clownspuppe, die an Geräte angeschlossen ist und der von feisten Ordensschwestern mit Hakenkreuzbinden und von einem Arzt an den Geschlechtsteilen manipuliert wird. Die Darstellungen erinnern in ihrer lapidaren Vereinfachung an Kinderbuchillustrationen, entwickeln aber komplexe Symbole für das Leiden, wobei Werner mehrfach auf traditionelle Bildformen für das Martyrium Christi und einzelner Heiliger anzuspielen scheint. Er nimmt sogar seine spätere Ermordung zeichnerisch vorweg. Auf einem Blatt zeigt er Patienten mit Zipfelmützen fröhlich in einem Bus mit Hakenkreuzfahne und dem Banner „STERELATION” sitzen, auf dessen Dach eine Schwester zwei Hoden auf einem Teller präsentiert. Der Bus erinnert an in der NS-Zeit übliche Propagandawagen.

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Als „außerordentliche und einzigartige Opfer-Dokumente” sieht die Heidelberger Psychiaterin und promovierte Medizinhistorikerin Maike Rotzoll die Zeichnungen Die Wissenschaftlerin kannte bisher keine Bilder oder Zeichnungen von Opfern der NS-Zwangssterilisation, die das ihnen angetane Unrecht künstlerisch thematisierten.

„Zeichnungen über den Akt der Zwangssterilisation und die künstlerische Aufarbeitung dieses realen Traumas gab es bisher nicht. Deshalb ist der Fund auch so sensationell. Es gibt zwar auch Briefe von Opfern der Zwangsterilisation aus der damaligen Zeit, die Quellen für die Perspektive der Opfer darstellen, und einzelne Gedichte – Zeichnungen sind bislang jedoch nicht bekannt geworden”, sagt Maike Rotzoll, die sich seit Jahren mit Krankengeschichten aus der NS-Zeit befasst.

Die 45-jährige Historikerin erforscht gerade 3000 Akten von Psychiatrieopfern der NS-Euthanasieaktion „T4″, bei der etwa 70000 Menschen, mehr als die Hälfte Frauen, zwischen 1940 und 1941 systematisch vergast wurden. Im Rahmen dieser Mordaktion unter Federführung der SS kam auch Wilhelm Werner ums Leben. Im „Rassenwahn” des Dritten Reichs wurden zudem etwa 400000 Menschen zwangssterilisiert und wahrscheinlich ungefähr 300000 zumeist in Psychiatrien untergebrachte Menschen umgebracht.

Die Zeichnungen sind in einem Kabinett der „Sammlung Prinzhorn” noch bis zum 6. Juni 2010 zu sehen. Das Museum des Universitätsklinikums Heidelberg ist außer montags an Dienstagen und von Donnerstag bis Sonntag von 11.00 bis 17.00 Uhr geöffnet, mittwochs von 11.00 bis 20.00 Uhr.

Adresse: Sammlung Prinzhorn des Universitätsklinikums Heidelberg – Voßstraße 2, 69115 Heidelberg
Website Sammlung Prinzhorn