Auf dem ArXiv ist heute ein Preprint “Jewish Problems” von Tanja Chowanowa und Alexei Radul. Es geht um Aufgaben, mit denen unerwünschte Bewerber bei Aufnahmeprüfungen der Moskauer Universität ausgemustert wurden.

Der Abstrakt des Artikels (meine Übersetzung):

Dies ist eine spezielle Sammlung von Auswahlaufgaben, die Bewerbern bei mündlichen Aufnahmeprüfungen am Mathematikdepartment der Moskauer staatlichen Universität gestellt wurden. Diese Aufgaben wurden entworfen, um Juden und andere Unerwünschte am Bestehen der Prüfung zu hindern. Unter den Aufgaben, die das Department nutzte, um unerwünschte Kandidaten hinauszukegeln, zeichnen sich diese dadurch aus, daß sie eine einfache Lösung haben, die schwer zu finden ist. Aufgaben mit einfachen Lösungen zu stellen schützte das Department vor zusätzlichen Beschwerden und Rechtsmitteln. Deshalb hat diese Sammlung sowohl mathematischen als historischen Wert.

Der Artikel listet dann 21 Aufgaben mit ausführlichen Lösungen.

Zum Beispiel die beiden folgenden Aufgaben (aus mündlichen Prüfungen):
Aufgabe 16: Gegeben sind zwei parallele Strecken. Zerlege eine der beiden mit einem Lineal in sechs gleiche Teile.
Aufgabe 18: Wieviele Stellen hat die Zahl 125100?

Link zum Artikel: https://arxiv.org/PS_cache/arxiv/pdf/1110/1110.1556v1.pdf.

Tanja Chowanowa hat diese Aufgaben zum Teil in den 70er Jahren selbst gesammelt, zum Teil wurden sie ihr von Lesern zugeschickt, nachdem sie auf ihrer Webseite mehrere Artikel zum Thema und erste Aufgabenbeispiele veröffentlicht hatte.

Weitere auf ihrer Webseite veröffentlichte Beispiele:
“This is not a consultation” (über Michail Lyubich, der 1975 nicht zum Studium an der Uni Moskau zugelassen wurde, später wesentliche Beiträge zur Renormalisierungstheorie und zu lokalen Eigenschaften der Mandelbrotmenge leistete)
“The oral exam” (über eine Gleichung 8-ten Grades mit verborgener Symmetrie)
“The hidden agenda revealed”
“A math exam’s hidden agenda” (mit 5 Beispiel-Aufgaben)
“A hole for jews” (über Alexander Reznikov, der später durch den Beweis der Bloch-Vermutung bekannt wurde)
und noch eine Link-Sammlung auf https://www.tanyakhovanova.com/coffins.html.

Eine ähnliche Aufgabensammlung mit Lösungen wurde 2006 von Ilan Vardi veröffentlicht, wir hatten hier in Ruelle 4: Mathematik und Ideologie (und in Pontrjagin 100) schon mal darüber geschrieben.

Kommentare (15)

  1. #1 KommentarAbo
    10. Oktober 2011

  2. #2 rank zero
    10. Oktober 2011

    Einen schöner Artikel zum politischen Hintergrund hat George Szpiro geschrieben: Original in den Notices, eine deutsche Version gibt es in der Zeit.

  3. #3 koi
    10. Oktober 2011

    Nur Interessehalber:
    Gibt es nähere Hinweise auf den Zeitraum in dem diese Aufgaben gestellt wurden?
    der Hinweis ’70er Jahre bzw. ’75 und der Artikel den rank zero verlinkt hat geben ja schon eine Richtung vor. Ist irgendwo ein Hiweis, wann diese Praxis begonnen hat?

  4. #4 Thilo
    10. Oktober 2011

    Der Artikel von A.Shen im “Mathematical Intelligencer” gibt zu Aufgaben jeweils die Jahreszahlen an, die Beispiele dort sind alle aus den Jahren 1973-1989.

  5. #5 BreitSide
    10. Oktober 2011

    xxx

  6. #6 koi
    10. Oktober 2011

    Danke

  7. #7 Alexander
    11. Oktober 2011

    Jüdische Probleme im Kommunismus? Mit Verlaub, als jemand der in dieser Zeit im Ostblock sozialisiert wurde, kann ich nur laut lachen. Probleme hatten zu dieser Zeit ganz andere Gruppen. Z. B. Kinder von sogenannten “Intellektuellen”, eigentlich alle, die nicht der “Arbeiterklasse” angehörten – von Christen ganz zu schweigen. Das Juden diskriminiert wurden ist mir nicht bekannt, ich hatte damals eher den gegenteiligen Eindruck. Das es überhaupt ein Judenproblem gegeben haben soll, das habe ich explizit – zu meiner großen Verwunderung – erst nach der sogenannten Wende durch einschlägige Medien erfahren.

    Wer behauptet, dass Juden im Kommunismus verfolgt wurden, der hat entweder keine Kommunismuserfahrung oder er stellt die Tatsachen schlicht auf den Kopf oder, was noch viel schlimmer wäre, er lügt – und zwar vorsätzlich. Es wäre schon ein großer Treppenwitz der Weltgeschichte, wenn ausgerechnet die geistigen Schöpfer und Prätorianer des “wissenschaftlichen Sozialismus” als Opfer dargestellt würden.

    Aber wie gesagt, der jüdische Anteil an der Umsetzung sozialistischer Ideen war mir persönlich bis 1989 nicht bekannt, er war mir – bis dahin – sogar egal. Er war weder in der DDR, noch in der Sowjetunion ein politisches Thema.

    Schade nur, dass die wirklichen Opfer kommunistischer Regimes so in Vergessenheit geraten. Als Beispiel sei das toben der ‘Sowjetmacht’ gegen die sogenannten ‘Kulaken’ – also selbstständige Bauern – genannt, die bis in die dreißiger Jahre hinein verfolgt und praktisch ausgerottet wurden. Nur eine Gruppe (Klasse), aber die war praktisch ‘judenfrei’. Der bittere ironische Seitenhieb sei mir in Anbetracht dieses recht einseitigen Artikels gegönnt. Ich kenne eine Menge ‘Nichtjuden’, denen man in diesen Zeiten mit allerlei obskuren Begründungen die Aufnahme eines Studiums verweigert hat. Nur genießen die wohl keinen so durchorganisierten Opferstatus.

    Sich als Opfer zu generieren ist offensichtlich nicht nur spieltheoretisch von Vorteil.

    Conclusio: Juden hatten damals genau dieselben Probleme, die jeder Mensch im sowjetischen Einflussbereich hatte. Nicht weniger, aber bestimmt auch nicht mehr.

    Dies sei zur Ehrenrettung von Millionen nichtjüdischen Opfer kommunistischer Regimes notiert.

  8. #8 BreitSide
    11. Oktober 2011

    @Alexander: täusche ich mich oder waren die Juden eher die Menschewiki, die von den Bolschewiki gnadenlos bekämpft wurden (Trotzki fällt mir da nur als Name ein)? Am Anfang der Revolution waren sie natürlich dabei, so mies, wie es ihnen unter den Zaren ging. Nachher wurden sie aber ganz schnell wieder weggeputzt.

    Außerdem verstehe ich nicht ganz, warum die Erwähnung eines Teils der Opfer den anderen Teil entwerten soll? Spreche ich von Roma als Nazi-Opfern, entwerte ich damit die Juden, spreche ich von Schwulen, entwerte ich dann die Katholiken?

    Anscheinend hat etwas einen sehr wunden Punkt bei Dir getroffen.

  9. #9 Daniel
    11. Oktober 2011

    Man muss schon über ein ganz besonders großes Maß an Dummheit verfügen um den Umstand das jüdische Bürger der Sovjetunion scheinbar nachweislich diskriminiert wurden damit zu entschuldigen das andere Personen jüdischen Glaubens den Sozialismus angeblich erschufen.
    Die gegenseitige Aufrechnung ( und somit Relativierung ) von erlittenem Unrecht ist ebenfalls eine alte, aber logisch unhaltbare und für die historischen Arbeit vollständig nutzlose Methode.
    Warum die “Sozialisierung im Ostblock” den guten Alexander plötzlich zum Spezialisten für diskriminierte Volksgruppen macht ist mir ebenfalls ein Rätsel.

  10. #10 Stefan W.
    12. Oktober 2011

    125^100 ist – allerdings nicht mit Stift u. Papier errechnet:

    49090934652977265530957719549862756429752155124994495651115491171871\
    05254721715856460097884037331952277183571565131878513167918610424718\
    90280751482410896345225310546445986192853894181098439730703830718994\
    140625

    Die Aufgabe 2 mit den 2 Linien – ist das nicht mit dem Strahlensatz leicht zu erledigen?

    Die Aufrechnung der Diskriminierung in den 70ern mit einer der der 30er scheint mir aber auch das größere Problem, und: wenn die Juden als

    die geistigen Schöpfer und Prätorianer des “wissenschaftlichen Sozialismus” dargestellt

    werden, dann läuten bei mir alle Alarmglocken.

  11. #11 Thilo
    12. Oktober 2011

    @ Alexander:
    1. geht es im Artikel nicht um die DDR (in der ja nach dem 2.Weltkrieg bekanntlich fast keine Juden mehr lebten), sondern um die Sowjetunion
    2. ist deine These mit den ‘geistigen Schöpfern des wissenschaftlichen Sozialismus’ ja wohl wirrer Unfug (Marx, Engels, Lenin, Stalin, hab ich wen vergessen?)
    3. trifft es schlicht nicht zu, daß heute in den Medien der sowjetische Antisemitismus häufig thematisiert würde – neben dem oben erwähnten Szpiro-Artikel habe ich beim googeln zu diesem Beitrag nur noch zwei alte Artikel zum Thema gefunden (Russentum als Religionsersatz und Klima wie bei Kafka)
    4. wurden die Kulaken in meinem Beitrag nur deshalb nicht erwähnt, weil mein Thema nun mal die Mathematik und nicht die Landwirtschaft ist
    5. würde es mich schon mal interessieren, was du mit “ich hatte damals eher den gegenteiligen Eindruck” konkret meinst.

  12. #12 Thilo
    12. Oktober 2011

    @ Stefan W:
    Letztlich ist es schon der Strahlensatz, der in der Musterlösung zu Aufgabe 16 auf https://arxiv.org/PS_cache/arxiv/pdf/1110/1110.1556v1.pdf benutzt wird. Man muß bloß drauf kommen, wie man ihn anwendet.

  13. #13 Gustav
    14. Oktober 2011

    @Alexander: In der DDR wurde der Antisemitismus unterdrückt, ebenso wie der Rechtsextremismus. Nach dem Zusammenbruch, gab es am Tag der Deutschen Einheit, die ersten Aufmärsche von Neonazis und die ersten Häuserbesetzungen (!) von sogenannten Nationalen Kräften. Spiegel TV hat ganz brauchbare Dokus dazu. Erinnert sei auch an die Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen, Pogromartige Zustände gegen Migranten und MigrantInnen und ca. 2000 Menschen schauten zu und applaudierten. Es gab natürlich Antisemitismus und es gab natürlich Rechtsextremismus, es durfte nur nicht laut gesagt werden.

    Und natürlich gab es Juden die auch hochrangige Posten in den realsozialistsichen Staaten einnahmen, aber es lässt sich historisch zeigen, dass es meisten diese waren, die bei “Säuberungen” als erste “beseitigt” wurden. Der Antisemitismus war in Russland/Sowjetunion immer ein massives Problem und verursachte immer wieder über die Jahre (auch heute) noch Tote.

    Antisemitismus in der UdSSR bis 1953: https://www.hausarbeiten.de/faecher/vorschau/26028.html (kostet leider)

    Judenverfolgung in der “Sowjetunion” 1966-1969: https://www.geschichteinchronologie.ch/SU/Pinkus_judenverfolgung-in-russland-u-SU/18-1966-1969.html

    Geschichte der Juden in Russland, Abschnitt: Sowjetunion: https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Juden_in_Russland#Sowjetunion (vor allem die Nachweise beachten)

    Über den staatlichen “Antizionismus” der Sowjetunion (und bitte jetzt nicht behaupten, das sei kein Antisemitismus *): https://www.zukunftsfonds-austria.at/?i=31

    Das Spezialkommando Cobra (so etwas wie die GSG9) aus Österreich wurde 1972 gegründet, nach dem es zu Anschlägen auf Juden und Jüdinnen kam, die aus der Sowjetunion – über Wien – vor dem Antisemitismus flüchteten.

    * https://www.rabinovici.at/texte_pizza.html Doron Rabinovici, Was unterscheidet diese Pizza von all den anderen Pizzas?
    Zitat daraus: “Paradoxerweise stärkte die Existenz des Staates das Selbstbewußtsein der Diaspora, können Juden auf der ganzen Welt furchtloser leben, wenn sie wissen, daß ein Flug nach Zion möglich ist. Wer allerdings glaubte, daß mit Israel der Antisemitismus bezwungen sein würde, muß nun erkennen, das Ressentiment läuft wenn auch vielleicht nicht wegen Israel, so zumindest gegen Israel zu neuer Form auf. Israel wurde von Beginn an seine Daseinsberechtigung streitig gemacht. Der Staat der Juden wird nicht selten als Jude unter den Staaten gehaßt und verworfen.”

  14. #14 icehawk
    16. Oktober 2011

    Die erste Frage kapier ich nicht. :-/
    Was ist gegen die Lösung “Ich messe die Länge ab, teile das Ergebnis durch 6 und mache dann in dem erhaltenen Abstand Striche” zu sagen? So simpel kanns ja nicht sein, oder?

  15. #15 Thilo
    16. Oktober 2011

    @ icehawk: This is an exam, not a consultation. 🙂