Im Verlaufe meines ersten Jahres bei ScienceBlogs habe ich immer wieder in Diskussionen, bei denen Kritik am wissenschaftlichen Betrieb oder an wissenschaftlichen Verfahren geübt wurde, das Argument gehört, dass man als Kritiker der Wissenschaften auch die vielen Errungenschaften technischer Entwicklungen ablehnen müsste und deshalb etwa Computer, Autos usw. nicht benutzen dürfte.
Dieses Argument scheint zu besagen, dass technische Entwicklungen vorherige Wissenschaftliche Erkenntnisse notwendig zur Voraussetzung hätten, und dass diese wissenschaftlichen Erkenntnisse die entscheidenden Bedingungen für technische Errungenschaften sind.
Karl Drais und das Pferdesterben
Nun jährte sich vor wenigen Tagen der Geburtstag von Karl Drais zum 225. Mal, dessen Erfindung des Laufrades der Urahn für all unsere zweirädrigen Fortbewegungsmittel ist.
Wie man weiß spielt für die Stabilität der Zweiräder der Kreiseleffekt eine wichtige Rolle. Tatsächlich ist die Kreiseltheorie älter als das Laufrad, Leonard Euler, der rund 100 Jahre vor Drais lebte, hat sie aufgestellt.
Hat also die Überlegung, dass ein Kreisel seine Bewegungsachse selbst stabilisiert, zur Erfindung des Laufrades geführt? Natürlich nicht. Auslöser war ein ganz praktisches Problem. Aufgrund einer kleinen Klimakatastrophe war es wegen der Knappheit von Nahrungsmitteln zu einem Pferdesterben gekommen. Deshalb brauchte man ein anderes Fortbewegungsmittel. Der Erfinder- und Konstruktionsgeist von Karl Drais, verbunden mit einem gesunden Profitstreben führte den Forst-Beamten zu der Idee, ein Holzpferd mit zwei hintereinander angeordneten Rädern zu bauen.
Die Anwendung der Kreiseltheorie auf dieses Gefährt kam viel später. Erst Klein und Sommerfeld haben an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert die Kreiselbewegungen bei Fahrrädern theoretisch analysiert – da gab es das Fahrrad in seiner heutigen Form schon seit Jahrzehnten, findige Erfinder und risikofreudige Unternehmer hatten es entwickelt.
Die Dampfmaschine
Ohne Thermodynamik kann man nicht verstehen, warum eine Dampfmaschine funktioniert. Aber bauen und nutzen konnte man sie schon 100 Jahre bevor Carnot die thermodynamischen Kreisprozesse erstmalig theoretisch beschrieb.
Wurden Dampfmaschinen gebaut, weil die Thermodynamik erklärte wie Wärmeenergie in Arbeit umgewandelt werden kann? Selbstverständlich nicht. Auch hier waren es findige Praktiker, die aus einfachen Beobachtungen schlussfolgerten, dass sich die Kraft des Dampfes nutzen lassen müsste um Pumpen in Bergwerken in Gang zu setzen. Und wieder war es das Profitstreben von Unternehmern, das die technische Entwicklung vorantrieb.
Ein fruchtbares Wechselspiel
Nicht die Wissenschaft hat technische Entwicklungen angeregt oder gar ermöglicht, sondern umgekehrt: technische Entwicklungen haben überhaupt erst Untersuchungs-Objekte geschaffen, die für die Entwicklung neuer wissenschaftlicher Disziplinen interessant waren. Am Anfang standen nicht theoretische Beschreibungen, aus denen technische Entwicklungen abgeleitet wurden, am Anfang stand immer ein praktisches Problem, der Wunsch, dieses durch eine tolle Erfindung zu lösen und damit vielleicht sogar reich oder wenigstens berühmt zu werden.
Natürlich hat die Wissenschaft durch ihre Analysen und theoretischen Beschreibungen die weitere technische Entwicklung meist auch wieder befruchtet. Es ist ein fruchtbares Wechselspiel, an dem alle Seiten – Erfinder-Drang, Unternehmer-Geist und wissenschaftliche Analyse – ihre Freude haben.
Diejenigen, die meinen, man dürfe technische Erfindungen nicht benutzen, wenn man Wissenschaft kritisiert, müssten auch jede Kritik an Erfinder-Methoden und unternehmerischem Profitstreben ablehnen. Das zeigt natürlich nur, wie absurd das Argument ist, Kritik an einem System würde die Teilnahme an eben diesem System verbieten.
Kommentare (84)