Demokratie ist weit mehr als die Teilnahme an freien, geheimen und allgemeinen Wahlen. Ihre Legitimität beziehen die Institutionen einer parlamentarischen Demokratie daraus, dass “die politische Willensbildung durch den Filter einer diskursiven Meinungsbildung hindurchgeleitet wird” wie Jürgen Habermas in den letzten Jahren immer wieder betont hat (Nachzulesen in der kleinen Aufsatzsammlung Ach, Europa, edition suhrkamp, 2008).

Das Politikmodell der meisten parlamentarischen Demokratien ist deliberativ, was – etwas lax formuliert – bedeutet: Alle dürfen mitdiskutieren und wenige dürfen entscheiden. Aus der Tatsache, dass die Meinungen der Vielen gehört werden müssen und von den Entscheidern nicht gänzlich ignoriert werden können, beziehen die Entscheidungsverfahren ihre Legitimation.

Auch wenn dieses Modell Teil einer normativen Theorie ist können die realen europäischen Demokratien durchaus als deliberativ angesehen werden. Im vielschichtigen Diskurs der Bevölkerungen werden Meinungen gebildet und stabilisiert, an denen die politischen Eliten in ihren Entscheidungsprozessen langfristig nicht vorbei kommen.

Voraussetzung für eine solche Meinungsbildung zu politischen Fragestellungen ist eine entsprechende funktionierende Öffentlichkeit, die auf komplexe Weise aus ganz unterschiedlichen Teilnehmern zusammengesetzt ist: Journalisten, Intellektuelle und Experten die aktiv politische Probleme formulieren und Lösungsansätze diskutieren, Medien, die dieser Diskussion die Plattform bieten und das breite Publikum nicht nur informieren sondern in diese Diskussion mit einbezieht und schließlich das Publikum, welches nicht nur Informationen konsumiert sondern in Form von Wortmeldungen, Sympathie- und Ablehnungsbekundungen aber auch durch die pure Markmacht seines Medienkonsums aktiv an dieser Öffentlichkeit teilnimmt.

Öffentlichkeit ist Vorraussetzung für die Legitimität der parlamentarischen Demokratie

Das Internet ändert nichts Grundsätzliches an diesem Demokratie-Modell, es vergrößert vor allem den Anteil der aktiven Teilnehmer, die mit ihren Stellungnahmen und Diskussionsbeiträgen zur Meinungsbildung beitragen. Durch Foren, Blogs und Soziale Netzwerke wird der Meinungsbildungsprozess optimiert und damit die Chance einer Vergrößerung der Legitimationsbasis unseres Politikmodells geschaffen.

Die Legitimität europäischer Politik

Nun ist der Prozess der Europäischen Integration mit einer Verlagerung vieler Entscheidungs-Prozesse von nationaler auf europäische Ebene verbunden. Das wirft die Frage auf, wie es um die Legitimität dieser Entscheidungsprozesse bestellt ist, inwiefern die Bürger, die als das deliberative Modell gewöhnt sind, die Entscheidungen der europäischen Ebene ebenso akzeptieren können wie die ihrer nationalen Regierungen.

Mit dem Lissabonner Vertrag wurde zunächst dafür gesorgt, dass das Europäische Parlament, welches von den Bürgern selbst gewählt wird, mehr Kompetenzen erhält. Damit ist ein wesentlicher Teil der Legitimation der EU erfüllt. Was fehlt, ist die öffentliche Meinungsbildung.

Damit wir miteinander diskutieren können, müssen wir uns verstehen, und dazu scheint zunächst eine gemeinsame Sprache unabdingbar zu sein. Noch mehr als das: In jeder Diskussion werden Bezüge zum kulturellen Kontext hergestellt: Dichter werden beiläufig zitiert(„was die Welt im Innersten zusammenhält”), auf historische Umstände wird verwiesen (“Autobahn geht gar nicht”) und letztlich müssen die Teilnehmer an solchen Diskussionen auch erkennen können, wann etwas ein Scherz, wann etwas Ironie und wann es „bitterer Ernst” ist.

Selbst das Web 2.0 macht an den Sprachgrenzen halt

Dass politischer Meinungsaustausch und Willensbildung ein im Wesentlichen einsprachiges Unternehmen ist, zeigt selbst ein Blick auf die fortschrittliche Blogger-Welt. Natürlich verfolgen viele Teilnehmer dieser Szene auch fremdsprachige, vor allem englischsprachige Blogs oder haben englisch schreibende Twitterer abonniert. Und Einzelereignisse wie die Wahlen im Iran haben gezeigt, dass hier durchaus eine internationale Öffentlichkeit entstehen kann. Aber auf Scienceblogs.de z.B. kommunizieren deutschsprachige Blogger mit deutsprachigen Kommentatoren. So ist gemeinsame politische Meinungsbildung mit einem Schweizer Blogger eher möglich als mit einem Bürger aus irgendeinem anderen EU-Staat. Gleichzeitig haben wir kaum eine Vorstellung, was in anderen wissenschaftlichen oder politischen Blogs in der EU debattiert wird – von Beppe Grillo natürlich abgesehen.

Muss also Öffentlichkeit immer auf Sprach- und Kulturräume begrenzt sein? Wenn dies der Fall ist, dann scheint eine europäische Öffentlichkeit und damit eine Legitimität der europäischen Institutionen auf deliberativer Basis, wie wir sie von den nationalen Institutionen kennen, kaum möglich zu sein.

Transnationale Öffentlichkeit – ein Ausweg?

Jürgen Habermas, einer der großen Verfechter des deliberativen Politikmodells, sind diese Probleme durchaus bewusst. Das daraus resultierende Demokratiedefizit beklagte er u.a. in einem Vortrag vor dem Kulturforum der SPD am 27.11.2007.

Die politische Union ist über die Köpfe der Bevölkerungen hinweg als ein Eliteprojekt zustande gekommen und funktioniert bis heute mit jenen demokratischen Defiziten, die sich aus den im Wesentlichen intergouvermentalen und bürokratischen Charakter der Gesetzgebung erklären … Der abgespeckte Reformvertrag [besiegelt] erst recht den elitären Charakter eines von den Bevölkerungen abgehobenen politischen Geschehens. [Er] bekräftigt den bisherigen Politikmodus und macht die ängstliche Abkoppelung des europäischen Projekts von der Meinungs- und Willensbildung der Bürger definitiv. Die Europapolitik ist an den Wendepunkten des Einigungsprozesses noch niemals so unverhohlen elitär und bürokratisch betrieben worden wie dieses Mal.

Eine europäische Öffentlichkeit ist also nötig, damit sich deliberative Elemente in der europäischen Politik etablieren können. Habermas glaubt nicht, dass eine europäische Öffentlichkeit, nur auf der Basis neuer, europaweiter und vermutlich englischsprachiger Medien möglich ist – er hält das aber auch nicht für notwendig. „Dafür genügt es, dass sich die nationalen Öffentlichkeiten osmotisch füreinander öffnen.” Im Anschluss an Berhard Peters spricht Habermas von „transnationalen Öffentlichkeiten”. Den „Qualitätsmedien” spricht er dabei eine entscheidende Rolle zu – diese sollen über Meinungsbildungsprozesse in anderen europäischen Ländern berichten und damit sozusagen den Austausch zwischen den nationalen Öffentlichkeiten sichern. Die „seriöse Presse” – und das heißt für Habermas in Deutschland FAZ, Süddeutsche, Spiegel und Zeit – ist das Rückgrad der politischen Öffentlichkeit.

Habermas muss sich an dieser Stelle allerdings die Frage gefallen lassen, ob er das Eliteprojekt nicht nur einfach um eine weitere Elite erweitern will. Wenn das deliberative Politikmodell in Europa nur im Rahmen von „Qualitätsmedien” zu haben wäre, die einander trans-national zitieren, dann bleibt die Meinungsbildung zu europäischen Themen auf einen sehr schmalen Teil der Bevölkerungen begrenzt. Und ob diese Schicht dann auf die politischen Entscheider überhaupt den Druck ausüben können, der sich aus der breiten öffentlichen Meinungsbildung und damit aus der Gefahr, dass die Wähler ihren Politikern die Stimme verweigern, ergibt, ist ebenfalls zweifelhaft.

Der Königsweg für die europäische Öffentlichkeit und damit für die wirkliche Legitimation der europäischen politischen Institutionen scheint noch nicht gefunden zu sein.


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Kommentare (6)

  1. #1 Geoman
    August 28, 2009

    Das schmerzliche Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit zeigt sich wieder einmal in der schrittweisen Abschaffung der Glühbirne. Ein grandioser Sieg der vom Volk entrückten EU-Bürokratie über die Vernunft. Auf nationaler Ebene hätte sich wohl keine Regierung selbst mit dem Rückenwind des Klimawahns an solch ein Projekt herangetraut. Einziger Trost und Lichtblick an diesem Unsinnsprojekt, es wird die EU-Verdrossenheit bis in die letzte schwach beleuchtete Hütte tragen.

  2. #2 Jörg Friedrich
    August 28, 2009

    An dem Glühbirnen-Verbot stört mich vor allem, dass das nicht der Vernunft der Verbraucher und dem Markt überlassen wurde. In meinem Haus z.B. gibt es schon kaum noch Glühbirnen. Fallende Preise und attraktive Designs bei Alternativen verbunden mit hoher Wirtschaftlichkeit hätten ganz von selbst zum Aussterben der Glühlampe geführt. Hier haben wir vor allem ein Beispiel dafür, dass ein bürokratischer Apparat der alles regulieren will, die Bürger entmündigt und gleichzeitig von ihrer Verantwortung entbindet.

    Ein spezifisch europäisches Problem sehe ich hier allerdings nicht – das hätte Deutschland auch ganz ohne EU so gemacht. Und die Öffentlichkeit hätte hier auch national aktiv werden können.

  3. #3 Geoman
    August 28, 2009

    In meinem Haushalt ist nicht einzige Energiesparleuchte. Dafür aber ein ein ganzer Schrank voller Glühbirnen…Allerdings überwiegend der falschen Wattzahl, weil ich erst spät darüber informiert war, dass zunächt nur die 100 Watt-Birnen abgeschafft werden. Die EU nötigt den Bürger ja regelrecht zu übereilten Hamsterkäufen.

    In der Welt am Sonntag vom 16.08.09 stand der nachdenkliche Artikel “Warum schmerzt uns das Verschwinden der Glühbirne?” von Thomas Schmid. Der sieht in der Glühlampe ein höchst effektives Produkt der industriellen Moderne – das zugleich die Erinnerung an das Feuer der Urzeit wachhält.” Mit solcherlei Weltinterpretation kann ich mich irgendwie anfreunden, zumal ich mir das “romantisch-archaische, in der Gühbirnen gefangene Feuer der Urzeit” nicht gerne von einer bürgerfernen EU-Elite kaputtmachen oder wegnehmen lasse (u.a. Die EU-Bürokratie als Kulturvernichter), auch wenn es mir die kultruelle Bedeutung der Glühbiren vor dem Verbot gar nicht so bewusst war. Wie man es mit den Glühbirnen hält, sollte schon – wie Sie schreiben – jeder selber entscheiden und muss nicht von Brüssel aus überreguliert werden.

    Eine Bekannte erzählte mir übrigens, dass sie im Stern-TV gehört hätte, dass auch die Damenwelt im Energiesparlampenlicht erschreckend blass aussehen würde und daher ‘gezwungen’ sei’, um sich ins rechte Licht zu rücken, mehr Lack aufzulegen. Wenn das mal nicht in Energiepareffekte wieder aufhebt. In meinem Haushalt jedenfalls wird das sobald nicht vorkommen…!

  4. #4 Stefan
    August 28, 2009

    @Geoman: “Welt am Sonntag”, “eine Bekannte”, “Stern-TV” – also ich würde da doch erstmal die Lektüre seriöser Medien empfehlen, bevor ich mir eine Meinung pro oder contra Energiesparlampe bilde.

    Müssen wir die Laufzeiten von Atomkraftwerken verlängern, damit die Damenwelt nicht so blass aussieht? Auf Damen die “Lack auflegen” stehe ich sowieso nicht.

  5. #5 Geoman
    August 28, 2009

    @Stefan

    Oh, “Welt am Sonntag”, “eine Bekannte”, “Stern-TV” (man könnte vielleicht noch Öko-Test hinzufügen) sind allesamt sehr seriöse Quellen, die Öffentlichkeit schaffen bzw. den Bürgern sehr nahestehen, die von solchen Elitenententscheidungen betroffen sind.

    Ganz anders die Website des EU-Parlanments. Dort findet sich folgende ‘bürgernahe’ Legitimation für die umstrittene Entscheidung, die Glühbirne abzuschaffen:

    “Auch unsere Leser begrüßen die Entscheidung: Bei einer Umfrage haben sich von fast 1.400 Lesern aus ganz Europa mehr als die Hälfte uneingeschränkt für die vollständige Abschaffung der Glühlampe ausgesprochen.”

    Wohl fast überflüssig hinzuzufügen, dass sich fragt, welche Eliten sich wohl hinter der Formulierung “unseren Lesern” verbirgt?

  6. #6 Jörg Friedrich
    August 28, 2009

    Da es in diesem Ordner nicht um Klimaschutz und Energiesparlampen geht (dazu gibt es bei Primaklima ausreichende Diskussionsmöglichkeit) würde ich hier das Beispiel wirklich nur in Hinsicht auf die Legitimität der Entscheidung und Öffentlichkeit betrachten wollen. Die zitierten Medien sind Teil der Meinungsbildung und der Öffentlichkeit. Die Bevölkerungen stellen jedoch fest, dass die Entscheidung auf europäischer Ebene eben ganz unabhängig von Meinungsbildungsprozessen in den nationalen Mendien getroffen werden – damit verlieren die europäischen Institutionen an Legitimation. Das ist das Problem.