Etwa Mitte des 20. Jahrhunderts begannen Psychologen, systematisch die kognitiven Fähigkeiten von Menschengruppen und die Variabilität dieser Fähigkeiten über soziale, räumliche und zeitliche Spektren zu untersuchen. James R. Flynn hat in seinem Buch “What is Intelligence?” (Cambridge University Press, Cambridge 2007) diese Untersuchungen systematisch dargestellt und daraus eine Theorie der Intelligenz abgeleitet.

Flynn beginnt mit einem Vergleich: “My fundamental line of argument will be that understanding intelligence is like understanding the atom: we have to know not only what holds its components together but also what split them apart. What binds the components of intelligence together is the general intelligence factor g; what acts as the atom smasher is the Flynn effect or massive IQ gains over time.”

Die Intelligenz-Forschung beginnt also mit einem impliziten Begriff der „Intelligenz”. Intelligenz ist etwas, was aus verschiedenen messbaren Fähigkeiten eines Menschen konstituiert wird, indem die Ergebnisse dieser Einzelmessungen nach einem definierten Verfahren miteinander verbunden werden.

Woher bestimmt man die Auswahl dieser Einzeltests? Man gewinnt sie aus der empirischen Praxis. Es zeigt sich, dass bestimmte Messungen von Fähigkeiten bei den meisten Menschen sehr stark miteinander korrelieren. Als Grund für diese Korrelation vermutet man die Existenz einer menschlichen Eigenschaft, eben der Intelligenz. Damit kann die Intelligenz des einzelnen mit Hilfe eines mathematischen Verfahrens aus den Ergebnissen von Einzeltests bestimmt werden.

Am Beginn der systematischen Erforschung der Intelligenz steht also eine vorwissenschaftliche Vorstellung von dem, was den Menschen auszeichnet, Intelligenz wird als Fähigkeit verstanden, neue Probleme spontan zu lösen, Lösungswege für Herausforderungen und Widerstände der Alltagswelt zu finden.

Um diese Fähigkeit messen zu können, konstruiert man standardisierte, reproduzierbare und überschaubare Einzeltests. Flynn vergleicht die Intelligenztests gern mit sportlichen Wettkämpfen, z.B. mit dem Zehnkampf. Dort geht man ebenfalls davon aus, dass es eine allgemeine Fähigkeit beim Menschen gibt, die Sportlichkeit, die dazu führt, dass der Mensch verschiedene körperliche Herausforderungen besonders gut meistern kann. Und wenn jemand besonders hoch springen kann, ist er (ohne besonderes Training) auch ein überdurchschnittlich schneller Läufer. Die verschiedenen sportlichen Fähigkeiten kann man dann in standardisierten Einzeltests messen (100-m-Lauf, Hochsprung,…) und die verschiedenen Messergebnisse zu einem Gesamtergebnis, das dann ein Maß für die Sportlichkeit insgesamt ist, zusammenrechnen.

Genauso verfährt man im Intelligenztest: Es gibt verschiedenen Teiltests, die geistige Einzelfähigkeiten messen. Man stellt fest, dass die Ergebnisse der Einzeltests stark miteinander korrelieren und erklärt dies mit einer allgemeinen Fähigkeit, die all diesen Leistungen zugrunde liegt, der Intelligenz.

Die systematisch durchgeführten Intelligenztests der letzten Jahrzehnte haben ein allgemeines Wachstum der so gewonnenen Messgrößen gezeigt. Einerseits sind die Veränderungen dramatisch: Aus heutiger Sicht würde man einen großen Teil der 1930 geborenen Menschen als geistig behindert einstufen müssen. Jedem ist klar, dass das absurd ist. Andererseits zeigen die verschiedenen Teiltests sehr unterschiedliche Entwicklungen. Hinsichtlich der arithmetischen Fähigkeiten, des Umfang des Vokabulars und der Fähigkeiten, Informationen strukturiert wiederzugeben, unterscheiden sich die heutigen Testergebnisse kaum von denen aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, im formalen Problemlösen jedoch sind die Steigerungen dramatisch. Wenn man aber annimmt, dass all diese Fähigkeiten gleichermaßen auf der Intelligenz des Menschen beruhen (wie die starke Korrelation zwischen den Messgrößen innerhalb einer Generation nahe legt) dann müsste die Zunahme der Intelligenz in allen Teiltests gleichermaßen sichtbar sein.

Zur Auflösung dieser Paradoxa verweist Flynn auf die Unterschiede in der vorherrschenden Art, zu denken. „The first distinction is that between pre-scientific and post-scientific operational thinking.” Flynn verdeutlicht das an folgendem Beispiel: Wenn man Menschen, die die Welt durch eine „vorwissenschaftliche Brille” betrachten, Ähnlichkeitsfragen des Typs „Was haben Hunde und Hasen gemeinsam?” stellt, werden sie über ihr konkretes Tun in Bezug auf die konkreten Tiere nachdenken, eine mögliche Antwort könnte sein „Man benutzt Hunde um Hasen zu jagen.” Mit der korrekten Antwort, dass sie beide Säugetiere sind, könnte dieser Mensch nichts anfangen, auch wenn er den Fakt selbst wüsste. Von seinem Standpunkt aus ist das die unwichtigste Sache. Erst wenn man gelernt hat, die Welt durch eine wissenschaftliche Brille zu betrachten (und alle heutigen Jugendlichen in den betrachteten Gesellschaften haben das gelernt), wird die biologische Gemeinsamkeit überhaupt bemerkenswert.

Wir nutzen heute also unsere Intelligenz auf neue Art und genau diese Art ist es, die die Intelligenztests messen. Als die Wissenschaft die ersten Messungen für Intelligenz definierte, war das „wissenschaftlichen Sehens” auf den Alltag in der westlichen Welt bereits auf dem Vormarsch. Somit ist es kein Wunder, dass die Tests so definiert wurden, dass genau die Fähigkeiten, die diesem Wissenschafts-orientierten Blick entsprachen, berücksichtigt wurden, während das konkrete Gegenstandsbezogene Denken des „vorwissenschaftlichen Sehens” nicht als Intelligenz-relevant angesehen wurde.

Zur Bestandsaufnahme der Intelligenz-Forschung gehört für Flynn auch die Frage wie es möglich ist, dass Tests an Zwillingen eindeutig die genetische Determiniertheit der Intelligenz belegen und andererseits die bereits erwähnten Vergleiche zwischen verschiedenen Generationen belegen, dass sich die Intelligenz verändert, obwohl die Menschen sich im gleichen Zeitraum nicht genetisch verändert haben.

Zunächst betrachtet Flynn den Lösungsversuch von Lewontin. „He distinguishes the role of genes within groups from the role of genes between groups.” Lewontin vergleicht die Situation der Ausprägung von Intelligenz mit der der Aussaat von Getreide: Genetisch gleiches Saatgut wird unter guten Umweltbedingungen gleichermaßen gut gedeihen und unter schlechten Bedingungen gleichermaßen schlecht wachsen.

Diese plausible Erklärung Lewontins hält Flynn jedoch für einen „vergifteten Apfel”: Die Veränderungen in den Umweltbedingungen, die zur besseren Ausbildung der vorhandenen Dispositionen zur Intelligenz führen können, treffen innerhalb von zwei Generationen nicht alle Menschen gleichermaßen, argumentiert Flynn. Somit kann das deutliche Wachstum der Fähigkeiten, die in den Tests gemessen werden und die die gesamte betrachtete Gesellschaft betreffen, nicht aus den Verbesserungen in den Bedingungen erklärt werden.

Flynn selbst erklärt die Tatsache, dass Zwillinge auch wenn sie direkt nach der Geburt getrennt werden als Jugendliche die gleichen Ergebnisse bei Intelligenztests erreichen mit Selbstverstärkungsprozessen von genetisch bedingten Vorteilen, verbunden mit Trends in der Gesellschaft, die sich über die gesamte Gruppe auswirken: Wenn in den USA ein junger Mensch einen genetisch bedingten Intelligenz-Vorteil hat, dann wird er mit großer Wahrscheinlichkeit auf eine bessere Schule geschickt, seine Fähigkeiten werden besser trainiert und damit immer stärker ausgebildet. Relativ unabhängig von der konkreten Umwelt werden deshalb Zwillinge mit genetisch bedingter überdurchschnittlicher Begabung auch deutlich bessere Ergebnisse in Intelligenztests erreichen.

Aus den empirischen Untersuchungen und den Erklärungsversuchen zu den beobachteten Phänomenen leitet Flynn die Grundzüge einer Theorie der Intelligenz ab, deren Entwicklung und Struktur für die wissenschaftstheoretische Fragestellung des Status theoretischer Entitäten von großem Interesse ist.

Flynn beginnt mit der Kritik eines Standpunktes, den Jensen 1972 formuliert hat: „He said that intelligence, by definition, is what intelligence tests measure.” Diesen Standpunkt bezeichnet Flynn als Instrumentalismus, und er lehnt ihn schon aus dem Grund ab, dass es dann niemals möglich wäre, bessere Intelligenztests zu entwickeln, da alles, was der neue Test misst, von dem abweichen würde, was Intelligenz per Definition ist.

Instrumentalisten würden Flynn hier sicherlich widersprechen und würden wahrscheinlich so argumentieren, dass eine neue Theorie, die mit einem neuen Testverfahren auch eine abweichende Definition von Intelligenz aufstellen würde, natürlich möglich wäre. Die neue Theorie wäre dann besser, und damit auch das in ihr zur Definition von Intelligenz verwendete Messverfahren, wenn sie mehr empirische Phänomene erklären würde als die vorherige Theorie.

Flynn lehnt auch Jensens in der Folge vorgeschlagenen Versuch ab, den Begriff Intelligenz ganz zu vermeiden, weil er unpräzise ist und kein Konsens zu erwarten ist. Flynn zeigt, dass es auch Jensen gar nicht möglich ist, ganz auf diesen Begriff zu verzichten und dass es auch nicht hilft, Umschreibungen wie „mentale Fähigkeiten” zu verwenden. Da wir einen unklaren Begriff von Intelligenz immer im Kopf haben ist es ein großer Fehler zu versuchen, auf diesen Begriff in der Wissenschaft zu verzichten. Vielmehr muss eine klare Definition gefunden werden.

Um dieses Ziel zu erreichen, geht Flynn zunächst von einer vortheoretischen Bestimmung des Intelligenzbegriffes aus. Er bestimmt sechs Charakteristiken die unsere Fähigkeit zum Lösen kognitiver Probleme bestimmen: mentale Schärfe, geistige Gewohnheiten, Einstellungen, Wissen und Informationen, Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung, Gedächtnis. Flynn geht davon aus, dass diejenigen, die Intelligenztests entwickeln, einen Intelligenzbegriff im Kopf haben, der diese Komponenten umfasst. Von diesem Begriff aus unternimmt Flynn den Versuch, einen wissenschaftlichen Intelligenzbegriff zu entwickeln, der auf drei Ebenen einsetzbar ist: der Gehirn-Physiologie, der Untersuchung individueller Unterschiede und der Erforschung sozialer Trends. Diese drei Ebenen haben für Flynn die gleiche Funktion innerhalb der Theorie wie die Teilchen- und die Wellendarstellung des Lichts innerhalb der Physik: Auf der einen Ebene kann Intelligenz als hoch-korreliertes Set von Fähigkeiten angesehen werden, während auf einer anderen Ebene diese Fähigkeiten funktionell voneinander unabhängig sind. Die drei Ebenen sind:
1. Das Gehirn: Intelligenz bedeutet auf dieser Ebene die Entwicklung hoch lokalisierter neuraler Cluster auf Grund spezialisierter kognitiver Übungen.
2. Individuelle Unterschiede: Performanz-Unterschiede zwischen Individuen hinsichtlich einer Vielzahl verschiedener kognitiver Aufgaben sind hoch korreliert.
3. Gesellschaft: Verschiedene kognitive Fähigkeiten zeigen im Verlauf der Zeit unterschiedliche Trends als Ergebnis der Veränderungen in den sozialen Prioritäten.
Flynn selbst verweist darauf, dass es noch ein langer Weg ist bis das Wissen, das auf diesen drei Ebenen verfügbar ist, zu einer einzigen Theorie vereinigt ist. Die Ansätze, die er selbst zur Konstruktion dieser Theorie im weiteren geliefert hat, können hier nicht dargestellt werden, auch wenn die wissenschaftstheoretischen Implikationen einer solchen Theorie genauso interessant zu untersuchen sein werden wie die ethischen Konsequenzen.

Kommentare (1)

  1. #1 Etez
    Juni 15, 2009

    Nur eine Randbemerkung:

    Flynn hat eine schöne Karriere mit der Entdeckung des Flynn-Effektes hingelegt, welcher allerdings aus verschiedenen Gründen anfechtbar ist: Zum einen ist der Zugewinn in den westlichen Industriestaaten zum Stillstand gekommen (manche Testergebnissse wurden sogar schlechter), zum anderen ist meines Erachtens die statistische Auswertung des Datenmaterials, welche Flynn ehedem vollzog, durchaus anfechtbar, eine Reanalyse der Daten ergab jedenfalls, dass 1. gewisse Beziehungen besser nonlinear zu modellieren wären, 2. weitere Befunde insignifikant waren und 3. Ausreißer die Resultate durchaus verzerren könnten. Dies sollte, ohne jetzt auf die weiteren Punkte einzugehen – durchaus im Hinterkopf behalten werden.