Auf die Frage, ob jene nicht direkt beobachtbaren Objekte wirklich existieren, mit deren Eigenschaften und Verhalten wissenschaftliche Theorien die beobachtbaren Phänomene erklären, hatte Ian Hacking Anfang der 1980er Jahre eine sehr pragmatische Antwort: „Nicht weil die Elektronen Bausteine wären, sind wir dazu berechtigt, von ihrer Wirklichkeit zu sprechen, sondern weil wir wissen, dass sie ganz bestimmte Kausalkräfte aufweisen.” schreibt Hacking, und noch pointierter, ebenfalls bezogen auf Elektronen: „Wenn man sie versprühen kann, sind sie real”

Hacking rechtfertigt also seine Ansicht, dass Elektronen existieren, damit, dass er die offensichtliche Möglichkeit aufzeigt, dass man mit Elektronen etwas machen kann, dass man ihre kausalen Kräfte dazu nutzen kann, um experimentell in die Welt einzugreifen. Wir behaupten Existenz oder gehen davon aus, dass die Gegenstände der Wissenschaften wirklich existieren, weil wir mit ihnen auf dieser Basis handelnd in die Welt eingreifen können. „Die Wirklichkeit steht in Verbindung mit der Kausalität, und unsere Realitätsvorstellungen werden aufgrund unserer Fähigkeiten zur Weltveränderung gebildet.”

Der Erläuterung und Begründung dieses Standpunktes ist der zweite Teil von Hackings „Einführung” gewidmet, in dem er einerseits anhand einer Fülle von Beispielen ein Bild des tatsächlichen Wissenschaftsbetriebes skizziert ohne dabei in eine Wissenschaftssoziologie abzugleiten und andererseits den Unterschied seines Standpunktes zu anderen, auch realistischen, Ansätzen in der Wissenschaftstheorie erläutert.

Besonders interessant für die Fragestellung der Bedeutung von „Existenz” ist dabei das Kapitel über „Mikroskope”. Zunächst könnte man hier meinen, dass Hacking einer anti-realistischen Argumentation folgt, indem er zeigt, dass unsere Vorstellung falsch ist, wir würden durch das Mikroskop sehr kleine Gegenstände einfach sehen können und die Plausibilität der Existenz dieser Gegenstände ergäbe sich aus der Kontinuität des Sehens mit unbewaffneten Auge, mit immer stärkeren Lupen, mit einfachen und komplizierteren Lichtmikroskopen und schließlich mit Elektronenmikroskopen. Er beschreibt, dass schon Lichtmikroskope anders funktionieren als die meisten von uns glauben und dass wir auch durch sie nicht selbstverständlich etwas sehen können.

Wie aber lernen wir nach Hacking das Sehen durch Mikroskope? „Nicht durch bloßes Hinschauen, sondern durch aktives Handeln lernt man etwas durch ein Mikroskop sehen.” Hacking beschreibt z.B., dass man sich davon überzeugt, dass ein Zellkern wirklich existiert, indem man ihm mit einer selbst verfertigten Nadel Flüssigkeit injiziert und diesen Vorgang, dieses eigene Handeln im Mikroskop beobachtet. Im Abschnitt „Das Gitterargument” erläutert er, wie unter Verwendung fotografischer und anderer technischer Verfahren Gitter zum Wiedererkennen dichter Körperchen hergestellt werden. „Ich weiß, dass das, was ich durch das Mikroskop sehe, der Wahrheit entspricht, weil wir das Gitter eben diesen Angaben entsprechend hergestellt haben.”

Es ist die Kombination aus verschiedenen praktischen Tätigkeiten und Verfahren, die miteinander nicht verbunden sind und die aber immer wieder zu gleichen, sich gegenseitig stützenden Ergebnissen führt, die uns von der Existenz dessen, was wir mit Hilfe des Mikroskops beobachten, führt. Dazu ist es nach Hacking am allerwenigsten notwendig, dass wir über eine Theorie des Mikroskops verfügen, wir müssen nicht wissen, wie es funktioniert, um mit ihm etwas beobachten zu können, auch nicht, dass wir eine Theorie von dem besitzen, was wir möglicherweise im Mikroskop zu sehen erwarten, wichtig ist vor allem, dass wir durch unsere Tätigkeit gelernt haben uns in dem, was wir da sehen, zurechtzufinden.

Mit Blick auf die Beobachtung lebender Zellen schreibt Hacking: „Was uns überzeugt, ist nicht eine leistungsstarke deduktive Theorie der Zellen – eine solche Theorie gibt es gar nicht – sondern es ist eine Vielzahl ineinandergreifender Generalisierungen auf niedriger Ebene, durch die wir die Möglichkeit erhalten, Phänomene im Mikroskop zu steuern und hervorzurufen. Kurz, wir lernen, uns in der mikroskopischen Welt zurechtzufinden.”

Eine wichtige Kategorie dieser Tätigkeiten ist nach Hacking die „Erzeugung der Phänomene”. Damit meint er, dass der Wissenschaftler die Effekte oder Phänomene, von denen seine Untersuchungen handeln, im Experiment überhaupt erst erzeugt. Für Hacking ist dies von besonderer Bedeutung da er damit zeigen kann, dass das Experiment sehr häufig den Theorien vorausgeht, und dass der experimentell tätige Forscher, indem er regelmäßige Prozesse erkennt und im Labor reproduzierbar macht, dem Theoretiker erst die Grundlage liefert, auf der dieser seine Theorien entwickeln kann.

Er meint, „dass der Hall-Effekt unabhängig von einer bestimmten Art von Apparatur gar nicht existiert. Sein modernes Äquivalent ist eine technische Angelegenheit, die zuverlässig und routinemäßig produziert wird. Zumindest in seinem reinen Zustand kann der Effekt nur durch solche Vorrichtungen greifbare Realität werden.” „Vor zwanzig Jahren gab es im Universum weder Laser noch Maser. … Heute hingegen enthält das Universum zehntausende von Lasern …”

Man könnte zunächst meinen, dass Hacking hier die Existenz von materiellen Dingen behauptet, die unter bestimmten bekannten und reproduzierbaren Bedingungen ein bestimmtes Verhalten zeigen. Welche „Dinge” zeigen hier ihr Verhalten? Sind es die synchron schwingenden Atome im Laser oder ist es die ganze Apparatur? Die Atome hat es schon vor den Effekten gegeben. Wenn Hacking sagt, den Effekt gab es noch nicht, bevor die Experimentatoren die Apparaturen gebaut hatten, in denen die schwingenden Atome (als zielgerichtet platzierte Teile der Apparatur) das entsprechende Verhalten zeigen, dann spricht er von der Existenz eines Komplexes, der aus materiellen Dingen und sichergestellten Bedingungen, unter denen diese Atome sich verhalten, besteht.

Das „sind Instrumente, Werkzeuge, die nicht dem Denken sondern dem Tun dienen” – und gerade die Effekte sind es ja, die der Experimentator sich nutzbar macht, um weitere Experimente aufzubauen und neue Effekte hervorzubringen, man denke nur an die optischen Experimente mit Hilfe von Laserstrahlen. Hacking spricht in diesem Zusammenhang von „experimentellen Entitäten” oder „Entitäten des Experimentators”. Diese Entitäten zeichnen sich dadurch aus, dass ihre kausalen Eigenschaften dem Experimentator so gut bekannt sind, dass er sie im Versuch einsetzen kann, um präzise bestimmte Wirkungen zu erzielen. „Sobald wir imstande sind, das Elektron in systematischer Weise zur Beeinflussung anderer Bereiche der Natur zu benutzen, hat das Elektron aufgehört, etwas hypothetisches, etwas erschlossenes zu sein. Es hat aufgehört, etwas Theoretisches zu sein, und ist etwas Experimentelles geworden.”

Hacking begründet seinen Entitäten-Realismus also damit, dass es dem Wissenschaftler möglich ist, durch die erkannten kausalen Kräfte der Entitäten diese wiederum im Experiment einzusetzen um neue Effekte zu produzieren. Das heißt also, die Tatsache, dass die Phänomene durch den Experimentator erst geschaffen werden ist gleichzeitig der Nachweis für die Existenz der nicht direkt beobachtbaren Objekte, auf deren Basis die Theorien die Beobachtungen erklären.

Sein Entitäten-Realismus ist also ein ganz pragmatischer: Wenn der Experimentator die nicht beobachtbaren Objekte verwenden kann, um Effekte zu produzieren, dann wird in dieser Handlung offenbar die Existenz der Entität, die da benutzt wird, vorausgesetzt – und sie kann in allen wissenschaftlichen Handlungen und theoretischen Überlegungen, die auf dieser Nutzung aufbauen, auch nicht mehr geleugnet werden.

Problematisch kann diese pragmatische Rechtfertigung von Existenzbehauptungen über theoretische Entitäten jedoch dann werden, wenn diese Entitäten nicht in Experimenten aktiv eingesetzt werden können, um Effekte zu produzieren. Wenn man mit Hacking bei einer handlungsorientierten Rechtfertigung von Existenzbehauptungen stehen bleibt, schließt man das weite Feld all der Wissenschaften von der Betrachtung aus, die ihre empirische Basis ausschließlich oder vorwiegend aus reiner Beobachtung ziehen – von der Ökonomie über die Klimaforschung und die Evolutionsbiologie bis hin zur Kosmologie.

Kommentare (11)

  1. #1 Fischer
    Mai 18, 2009

    Man kann’s auch kurz sagen: Was ein Objekt ist hängt einzig und allein daran, was es tut. Ein Ding das nichts tut ist auch nicht.

  2. #2 Jörg Friedrich
    Mai 18, 2009

    @Fischer: Das wäre ein ganz kleines bisschen zu kurz: Hacking’s Ansatz – so gekürzt – wurde lauten: “Was ein Objekt ist hängt einzig und allein daran, was man mit ihm tun kann. Ein Ding mit dem man nichts tun kann, ist auch nicht.”

  3. #3 Althir
    Mai 18, 2009

    @Jörg Friedrich:
    Also Hacking meint, dass nur das, was in einem Experiment beeinflusst werden kann, auch wirklich existiert. Wie weit geht er denn mit dieser Vorstellung? Müssen die Dinge im Experiment immer beeinflusst werden, damit sie existieren oder reicht es, dass sie prinzipiell beeinflussbar sind?
    Ich denke da in Bezug auf die Astronomie beispielsweise an Gasnebel. In einem Labor ist es möglich mit Wasserstoff zu experimentieren und bestimmte Erkenntnisse daraus zu gewinnen, die dazu führen, dass man auch viele Lichtjahre entfernt Wasserstoff nachweisen kann. Der Wasserstoff im Weltraum kann vom Experimentator jedoch, zumindest aufgrund der Entfernung, nicht beeinflusst werden. Prinzipiell wäre aber auch dies möglich, wenn der Experimentator dorthin reisen könnte und dort seine Experimente duchführte.
    Sind Gasnebel dann nach Hacking existent oder nicht?

  4. #4 Andrea N. D.
    Mai 18, 2009

    gut verständlich:
    https://de.wikipedia.org/wiki/Ian_Hacking
    und
    https://de.wikipedia.org/wiki/Entit%C3%A4tsrealismus

    Wenn Entitäten nicht aktiv eingesetzt werden können, existieren sie nach Hacking nicht, sofern ich ihn richtig verstanden habe. Problem gelöst.

    Widerspricht sich Hackings oder haben Sie ihn falsch wiedergegeben: Experimente gehen Theorien voraus, aber um einen Zellkern zu präparieren, den ich dann erstaunlicherweise (laut Hacking) im Mikroskop entdecke, muss ich doch zumindest eine Idee haben, was ich da möchte? Ich denke, man könnte dies eventuell auch Theorie nennen.

    “Das heißt also, die Tatsache, dass die Phänomene durch den Experimentator erst geschaffen werden ist gleichzeitig der Nachweis für die Existenz der nicht direkt beobachtbaren Objekte, auf deren Basis die Theorien die Beobachtungen erklären.” – ? Der erste Teil des Satzes ist noch nachvollziehbar: experimentell geschaffene “Phänomene” als Nachweis für nicht beobachtbare Objekte. Aber auf wessen Basis erklären die Theorien die Beobachtungen? Auf Basis der Experimente? Und wenn ja, was ist daran so bahnbrechend?

    Interessant an diesem Thema ist meines Erachtens nicht der handlungstheoretische Aspekt (der extrem menschzentriert ist) sondern die Kritiker von Hackings. Was haben Wissenschaftler dieser extrem vereinfachenden Sicht auf die Existenz von Dingen entgegenzusetzen?

  5. #5 Althir
    Mai 18, 2009

    @Andrea N. D.:
    Danke für den Hinweis auf die Wikipedia-Beiträge.
    Eine theoretische Entität existiert, wenn man sie als Werkzeug einsetzen kann. Eine stark vereinfachte Analogie wäre dann, dass ein Hammer existiert, weil ich mit ihm einen Nagel in die Wand schlagen kann. Das Sehen des Hammers oder dessen Beeinflussung (z.B. wiegen, verschieben, fallenlassen) reicht nicht aus.
    “Experimenting on an entity does not commit you to believing that it exists.” (aus Wikipedia).

    Allerdings gibt es noch eine andere Möglichkeit. Ein Objekt existiert auch, wenn man es durch verschiedenartige Mikroskope betrachten kann (bei Wikipedia werden als Beispiel kleine Punkte auf Thrombozyten genannt, die sowohl mit Elektronen-, als auch Lichtmikroskopen erkannt werden).
    (Nach nochmaligem Lesen habe ich dann auch gesehen, dass Jörg Friedrich das oben bereits angesprochen hat.)

    Eine Antwort auf meine Frage konnte ich daraus aber nicht ableiten. Es wäre aber möglich, dass ich die falsche Frage gestellt habe. Kann es sein, dass Hacking nicht fragen würde, ob Wasserstoff in vielen Lichtjahren Entfernung existiert, sondern dass seine Frage eher lauten würde, ob Wasserstoff überhaupt existiert? Diese müsste dann zwangsläufig mit “ja” beantwortet werden, da er als Werkzeug zur Beeinflussung anderer Dinge verwendet werden kann.

    Bin ich nun dem Verständnis Hackings näher gekommen oder muss man meine Überlegungen schlicht als Schwachsinn bezeichnen?

  6. #6 Jörg Friedrich
    Mai 18, 2009

    “Wenn Entitäten nicht aktiv eingesetzt werden können, existieren sie nach Hacking nicht, sofern ich ihn richtig verstanden habe. Problem gelöst.”

    Nein, dieser Umkehrschluss aus dem Satz, dass man die Existenz theoretischer Entitäten dadurch zeigt, dass man sie verwendet, um Effekte zu produzieren, gibt Hackings Standpunkt nicht richtig wieder. Meine etwas aphoristische Antwort auf Fischers aphoristische Kurzfassung könnte das vielleicht nahe legen, aber es ist eben umgekehrt: Indem die Wissenschaftler die Entitäten als Werkzeuge benutzen, setzen sie die Existenz dieser Entitäten ganz pragmatisch vorraus. Die Existenz der Elektronen wird dadurch gezeigt, dass sie verwendet werden. Das ist auch die Erklärung für die Frage Andrea N.D.s: Auf der Basis der Annahme der Existenz theoretischer Entitäten und deren kausalen Kräfte erklären Theorien die beobachtbaren Phänomene.

    Dem Beispiel Mikroskop widmet Hacking ein ganzes Kapitel, ich kann das hier nicht in ganzem Umfang wiedergeben. Hacking meint jedenfalls, dass man noch nicht die Idee eines Zellkerns braucht, bevor man mikroskopiert. indem man unter dem Mikroskop mit selbst gefertigten Instrumenten das, was man da sieht, manipuliert (z.B. indem man beobachtet, wie die Nadel, die die eigene Hand führt, eine Membran durchdringt und dann eine Flüssigkeit injeziert) gewinnt man ein empirisches Bild vom Zellkern.

    Das Hammer-Beispiel von Althir weist zunächst auf ein mögliches Missverständnis hin: Es geht nicht darum dass wir die Existenz makroskopischer, direkt beobachtbarer Gegenstände dadurch nachweisen, dass wir sie verwenden. Die Existenz direkt beobachtbarer gegenstände wie Nägel, Hämmer, Mikroskope, Steine, usw steht nicht in Frage. Theoretische Entitäten werden durch zwei Merkmale bestimmt: Sie sind nicht direkt beobachtbar und sie werden in Theorien verwendet, um beobachtbare Phänomene zu erklären.

    Nur im übertragenen Sinne, als Bild, kann man aber den Hammer verwenden, um das Problem zu illustrieren. Stellen Sie sich vor, sie wollen ein Bild aufhängen und zu diesem Zweck einen Nagel in die Wand schlagen. Sie schicken Ihren Sohn in den Keller um Hammer und Nagel zu besorgen. Der kommt mit dem Nagel wieder und sagt “Da ist kein Hammer:” und geht spielen. Sie gehen selbst in den Keller holen den Hammer, schlagen den Nagel in die Wand und schaffen den Hammer wieder weg. Das Kind kommt wieder und staunt, wie sie ohne Hammer den Nagel in die Wand bekommen haben. Und nun kommt ihr entscheidender Satz: “Natürlich haben wir einen hammer, schließlich habe ich mit ihn den Nagel in die Wand geschlagen!”

    Sie rechtfertigen die Aussage, dass da ein Hammer im Keller ist, also damit, dass sie ihn verwendet haben. Sie müssen ihn nicht zeigen, der Effekt ist Beweis genug.

    Zum Gasnebel in der Astronomie: Hier legen Sie den Finger auf den wunden Punkt des Hackingschen Konzeptes, wie ich ja auch im letzten Absatz meines Textes andeutete. Die Existenz-Rechtfertigung durch handelndes Eingreifen scheitert, wo ich nicht handelnd eingreifen kann. Hier muss man die Konzeption Hackings erweitern, ich weiß aber noch nicht genau, wie.

  7. #7 Althir
    Mai 18, 2009

    Vielen Dank für die Richtigstellung. Mir war schon klar, dass die Analogie ziemlich problematisch ist, da die Existenz makroskopischer Objekte nicht das Thema war.
    Jetzt sehe ich etwas klarer, naja eigentlich nicht, aber ich sehe zumindest nicht mehr in die falsche Richtung.;-)

  8. #8 Jörg Friedrich
    Mai 19, 2009

    @Althir: Ich empfehle Ihnen, Hackings “Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften” selbst zu lesen, es ist recht verständlich und sehr unterhaltsam geschrieben, mit vielen schönen Beispielen. Allerdings muss man sich immer der Tatsache bewusst sein, dass man hier nur Hackings Standpunkt präsentiert bekommt, keine Einführung in allgemein anerkanntes Wissen o.ä. – wie der Titel suggerieren könnte.

  9. #9 Althir
    Mai 19, 2009

    @Jörg Friedrich:
    Sobald ich mit Band2 von “Philosophie im 20.Jh” und G. Schurz “Einführung in die Wissenschaftstheorie” fertig bin werde ich es mal versuchen. Ohne Hacking gelesen zu haben (und ohne es passend formulieren zu können), habe ich den Eindruck, dass er sich etwas vor einer deutlichen Aussage zur Existenz drückt. Und ab wann ein “Ding” zur theoretischen Entität wird bin ich auch gespannt (nicht sichtbar: Auge? – Lichtmikroskop? – Elektronenmikroskop? – … – Planck-Länge?).

    So langsam wird das Lesen von ScienceBlogs ziemlich teuer;-)

  10. #10 Der Bo
    Mai 21, 2009

    Irgendwie komme ich bei solchen Diskussionen immer zu spät…naja, egal. Einen Einwand des Ganzen hätte ich und zwar über die Theoriefreiheit der Beobachtung.
    .
    Im Text heißt es:

    “Dazu ist es nach Hacking am allerwenigsten notwendig, dass wir über eine Theorie des Mikroskops verfügen, wir müssen nicht wissen, wie es funktioniert, um mit ihm etwas beobachten zu können, auch nicht, dass wir eine Theorie von dem besitzen, was wir möglicherweise im Mikroskop zu sehen erwarten, wichtig ist vor allem, dass wir durch unsere Tätigkeit gelernt haben uns in dem, was wir da sehen, zurechtzufinden.”

    Das ist meiner Meinung nach nicht ganz richtig. Der Biologe braucht zwar nichts über die Funktionsweise des Mikroskops zu wissen, er braucht auch keine Theorie des Zellkerns zu haben, bevor er ihn beobachtet, aber um die Bilder in seinem Mikroskop auswerten zu können braucht er eine Theorie darüber, wie etwas unter dem Mikroskop aussehen könnte. Denn die Bilder stellen nicht die Realität dar, sondern ein Abbild der Realität und er muss wissen, wie Abbild und Realität miteinander zusammenhängen um daraus schließen zu können, wie die Realität des Zellkerns (um im Beispiel zu bleiben) beschaffen ist. Im Falle eines Lichtmikroskops scheint die Sache vielleicht trivial, da die Realität (so wie man sie mit dem Auge sehen könnte) einfach vergrößert dargestellt wird. Doch erst mit dieser Theorie im Hintergrund kann er auch nachvollziehen, was er tut, wenn er Flüssigkeit in einen Zellkern spritzt.

    Um meine Ausführungen nicht zu lächerlich und kleinlich wirken zu lassen erweitere ich seinen Ansatz der Theoriefreiheit, quasi per superiectio, auf spektroskopische Methoden. Hier sieht man deutlich, dass zur Bewertung der Ergebnisse viel Theorie von Nöten ist. Selbst wenn man mit Sachen wie in-situ NMR-Spektroskopie arbeitet (was ich jetzt mal als Äquivalent zum Einspritzen von Flüssigkeit im Zellkern um sich in diesen Bereichen “zurecht zu finden” betrachte) sitzt einem die Theorie über die Auswertungen der Spektren bei jeder Beobachtung über die Schulter, sowie die Theorie der Vergrößerung bei der Betrachtung durch ein Lichtmikroskop.

    Das kann man jetzt unverhältnismäßig nennen, und bei Lichtmikroskopen als Pingeligkeit abtun, aber betrachtet man die von ihm erwähnten Elektronenmikroskope erscheint es schon nicht mehr so ganz einleuchtend was eigentlich auf den Bildern, die wir betrachten, dargestellt wird und warum es das tut. Hier verlassen wir den Wellenbereich des sichtbaren Lichts und können nicht uns nicht mehr darauf behelfen, dass die Bilder das sind, was wir sehen würden, hätten wir nur schärfere Augen.

    Der Punkt auf den ich hinaus will zielt auf sein Argument ab, dass wenn etwas durch verschiedene Methoden (Lichtmikroskop, Elektronenmikroskop) nachgewiesen (die gleichen Ergebnisse geliefert hat / es in den Mikroskopen gleich aussieht) nicht mehr verleugnet werden kann. Im Text heißt es dazu:

    “Es ist die Kombination aus verschiedenen praktischen Tätigkeiten und Verfahren, die miteinander nicht verbunden sind und die aber immer wieder zu gleichen, sich gegenseitig stützenden Ergebnissen führt, die uns von der Existenz dessen, was wir mit Hilfe des Mikroskops beobachten, führt.”

    Wenn wir alle Theorie außen vorlassen, sind nämlich die Ergebnisse von Messungen mit verschiedenen Mikroskoparten nicht zu vergleichen. Die Welt in der wir uns zurecht finden sollen würde ohne Theorie lediglich der Bildschirm sein, den wir betrachten. Wir könnten keine Rückschlüsse auf die Realität ziehen und somit wären die Methoden auch nicht mit einander zu vergleichen und vor allem würden sie sich nicht Gegenseitig stützen. Erst durch das Interpretieren der Ergebnisse lassen sich die schönen Bilder im Rastertunnelmikroskop mit dem Geschwurbel eines NMR-Spektrums vergleichen.

    ————————————————————————————————————————
    Kurzer Einwand gegen mich selbst vorneweg:
    Das Beispiel mit dem NMR-Spektroskop hinkt gewaltig, weil man damit nicht wirklich das Gleiche darstellt wie mit Mikroskopen. Aber es dient mit als übertriebenes Beispiel, da man schön sieht, wie sich Darstellungen von Messungen so stark unterscheiden können, dass man sie nicht so trivial vergleichen kann wie mit zwei verschiedenen Arten der Mikroskopie. Allerdings sollte man sich auch klar machen, dass man auch bei dem Vergleich von Elektronen- und Lichtmikroskop Theorie anwendet um sie miteinander zu vergleichen.
    ————————————————————————————————————————

    PS: An die Scienceblogsredaktion. Gerade bei Diskussionen wie diesen, bei denen man schonmal weiter ausholen muss wäre es sehr schön, wenn man seine Kommentare durch Kursiv- oder Fettschrift ein bisschen besser strukturieren könnte. Das würde auch das Lesen sehr erleichtern.

  11. #11 Jörg Friedrich
    Mai 22, 2009

    @Der Bo:

    Mit einem interessanten Diskussionsbeitrag kommt man nie zu spät.

    Zuerst möchte ich Hacking verteidigen:

    Hacking verweist selbst ausdrücklichdarauf, dass man im Mikroskop (sogar schon im Licht-Mikroskop) nicht einfach das sieht,was man vielleicht auch sehen könnte wenn man sozusagen nur bessere Augen hätte.

    Das man schon eine Idee davon haben muss, was da ist, damit man die Bilder interpretieren kann, würde er aber ablehnen.

    Für die Sache mit dem Zellkern sieht das etwas so aus (ich zitiere nicht, sonde schmücke Hackings Gedanken etwas aus): Ich sitze an meinem Mikroskob und sehe ein Gewir von Linien und Farben. Nun bringe ich meine Kanüle ins Bild. “Ah da ist meine Kanülenspitze.” DIe Spitze berührt eine Linie, die sich daraufhin verbiegt. Vielleicht fällt mir genau dadurch auf, dass die Linie einen Kreis bildet: “Ah, sowas wie ein Ball?!” – Ich erhöhe den Druck und durchstoße die Linie: “Eine Blase?!” ich Spritze die Flüssigkeit, woraufhin sich das Innere dieses Ding färbt – und erkenne so durch mein Handeln, dass es im Innern der Zelle noch so einen Kern gibt…

    Ich muss also vorher keine Vorstellung vom Zellkern gehabt haben – durch mein Haneln hab ich ihn entdeckt.

    Für das Elektronen-Mikroskop beschreibt Hacking ganz ähnliche Verfahren.

    Ich bin allerdings mit Ihnen der Meinung, dass diese Handlungs-Orientierung nicht immer funktioniert. Man muss sich allerdings im Klaren darüber sein, dass man, wenn man die Theorie-Beladenheit der Beobachtung betont, schnell in eine konstruktivistische Sicht der empirischen Befunde kommt, was gerade von Wissenschaftlern, die sich ja meist als Realisten sehen, oft abgelehnt wird.