Geometrie – System von Axiomen oder System von Gedanken?

Kapitel 3 von “Wie Mathematiker ticken” beginnt:

Mit einem exakt definierten System aus Axiomen und logischen Ableitungsregeln haben Sie alles, was sie für Mathematik brauchen. Gleichzeitig aber ist Mathematik nicht einfach ein großer Berg von Aussagen, die man logisch von grundlegenden Aussagen, den sogenannten Axiomen ableitet. Die meisten Mathematiker würden sagen, dass gute Mathematik aus Aussagen besteht, die interessant sind, dass sie eine Bedeutung hat und dass sie in natürliche Strukturen organisiert ist.

Tja, soweit alles klar.
Nur: was sind “interessante Aussagen”, “Bedeutung” oder “natürliche Strukturen”?

Ruelle greift zu einem Beispiel: das Erlanger Programm.

Das Erlanger Programm (1872 von Felix Klein in seinem Habilitationsvortrag aufgestellt) schlägt vor, beim Studium von Geometrien die Symmetrien der jeweiligen Geometrien zu benutzen.

Das Studium unterschiedlicher Geometrien wurde 1854 in Bernhard Riemanns auf eine systematische Grundlage gestellt, durch den Begriff der Riemannschen Mannigfaltigkeit, cf TvF 52. Manche Riemannsche Mannigfaltigkeiten haben interessante und nützliche Symmetriegruppen, cf. TvF 57. Bei Felix Klein geht es aber nicht nur um Riemannsche Mannigfaltigkeiten, sondern z.B. auch um affine oder projektive Geometrie. Vor allem die Symmetrien der projektiven Geometrie sind oft auch für elementar-geometrische Probleme nützlich: anders als bei euklidischen Symmetrien kann man mit projektiven Symmetrien Kreise in Geraden abbilden und dadurch Sätze über Kreise oft auf einfachere Sätze über Geraden zurückführen.

Geometrien durch ihre Symmetrien zu untersuchen:
z.B. die euklidische Geometrie beschäftigt sich mit Eigenschaften, die unter euklidischen Symmetrien (Verschiebungen, Drehungen, Spiegelungen) nicht geändert werden: Längen, Winkel etc.
Mit anderen Symmetriegruppen bekommt man andere Geometrien: die affine Geometrie, die projektive Geometrie, …
Und zu jeder Geometrie kann man die Größen untersuchen, die unter den jeweiligen Symmetrien erhalten bleiben. Z.B. bleibt das Doppelverhältnis von 4 Punkten unter Symmetrien der projektiven Geometrie erhalten.
(Daraus folgt z.B.: projektive Symmetrien bilden Kreise oder Geraden auf Kreise oder Geraden ab – denn das Doppelverhältnis von 4 Punkten in der komplexen Zahlenebene ist eine reelle Zahl dann und nur dann, wenn die 4 Punkte auf einem Kreis oder einer Gerade liegen.)

Felix Klein betont im Erlanger Programm besonders die projektive Geometrie.
Ist diese (oder eine der anderen Geometrien) nun einfach ein “System aus Axiomen” oder eine “natürliche”, “bedeutungsvolle”, “interessante” Struktur?
Ruelle argumentiert, daß man mit unterschiedlichen Geometrien natürliche elementar-geometrische Probleme lösen kann und daß die Einführung verschiedener Geometrien es ermöglicht, “Theoreme in eine gewisse Ordnung zu bringen.”

Will man den Satz des Pythagoras beweisen, wird man euklidische Geometrie benutzen; will man den Satz von Pappos beweisen, wird man eher projektive Geometrie benutzen.

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Satz des Pythagoras:
Im rechtwinkligen Dreieck gilt a2+b2=c2.
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Satz von Pappos:
Wenn a,c,e und b,d,f jeweils auf einer Geraden liegen, dann liegen auch die Schnittpunkte x,y,z auf einer Gerade.

Ruelle erklärt, wie man den Satz von Pappos mit den Methoden der projektiven Geometrie beweisen kann und kommt zu der Konklusion

An dieser Stelle mag sie langsam das Gefühl beschleichen, dass Geometrie mehr ist als eine spitzfindige Rechtfertigung von Theoremen. Es gibt Gedanken – Gedanken, die Platon nachvollziehen konnte.

Ob man das Erlanger Programm interessanter, bedeutungsvoller oder natürlicher als andere Zugänge zur Geometrie findet, ist letztlich Ansichtssache. Man könnte auch sagen: beim Erlanger Problem handelt es sich um eine Ideologie. Darum geht es dann im folgenden (4.) Kapitel.

Ruelle: Wie Mathematiker ticken
1 Wissenschaftliches Denken
2 Was ist Mathematik?
3 Das Erlanger Programm
4 Mathematik und Ideologie
5 Die Einheitlichkeit der Mathematik
6 Ein kurzer Blick auf algebraische Geometrie und Arithmetik
7 Mit Alexander Grothendieck nach Nancy
8 Strukturen
9 Die Rechenmaschine und das Gehirn
10 Mathematische Texte
11 Ehrungen
12 Die Unendlichkeit: Nebelwand der Götter
13 Fundamente
14 Strukturen und die Entwicklung von Konzepten
15 Turings Apfel
16 Mathematische Erfindung: Psychologie und Ästhetik
17 Das Kreistheorem und ein unendlich-dimensionales Labyrinth
18 Fehler!
19 Das Lächeln der Mona Lisa
20 „Tinkering” und die Konstruktion mathematischer Theorien
21 Mathematische Erfindung
22 Mathematische Physik und emergentes Verhalten
23 Die Schönheit der Mathematik