Seit ich mit der Netzwerk-Gruppe zu tun habe, sehe ich überall Netzwerke. Die Leser dieses Blogs sind teilweise untereinander vernetzt, zum Beispiel. Und die Nervenzellen in unseren Gehirnen knüpfen stets neue Verbindungen und lösen alte, je nachdem, wie viel sie zu lernen und zu kombinieren haben.

Aus der Sicht der Physik sind Netzwerke komplexe Systeme. Sie bestehen aus einer großen Zahl einzelner Teilchen oder Individuen, wobei sich das Kollektiv anders verhält als die Einzelteile. Wenn man weiß, was diese mit einander anstellen, lässt sich berechnen, wie das Ganze funktioniert – vorausgesetzt, man ist versiert in nichtlinearer Dynamik und statistischer Physik.

Das ist, was die Netzwerk-Gruppe am Max-Planck-Institut für die Physik komplexer Systeme in Dresden tut. Gruppenleiter Thilo Gross und seine Mitarbeiter wollen dabei gar nicht so genau wissen, wer in einem Nahrungsnetz gerade wie viel von was wegfrisst oder welche Nervenzelle auf welchen äußeren Einfluss wie stark reagiert. Im Gegenteil, sie verallgemeinern, beziehen Ungewissheiten, Wahrscheinlichkeiten und nichtlineare, also beispielsweise chaotisch verlaufende Entwicklungen bewusst ein. Mit Papier, Bleistift und mathematischen Tricks bauen sie dann möglichst einfache Modelle. Thilo Gross kennt dabei keine Grenzen: Gruppendynamische Prozesse interessieren ihn genauso wie die komplexen Beziehungen zwischen Räubern, Beutetieren und Pflanzen in der Natur. Oder die Frage, wie sich unter Internet-Nutzern ein musikalischer Geschmack ausbildet. Unter der Rubrik “arbeitet an…” steht bei ihm denn auch: “fast allem”.

Es verwundert daher kaum, dass in der Gruppe auch Nichtphysiker arbeiten. Der Ökologe Lars Rudolf etwa hat sich Nahrungsnetze vorgenommen. Schon die Beziehung zwischen einer Population von Blauwalen und ihrer Leibspeise Krill sei zu kompliziert, um sie in Computermodellen realistisch abzubilden, sagt er, und nahezu unmöglich wäre es, auch noch äußere Faktoren zu berücksichtigen. Zum Beispiel die Temperatur, von der das Wachstum der Algen abhängt, die wiederum den Krill-Krebsen als Nahrung dienen und so letztlich darüber bestimmen, ob die Blauwale satt werden oder verhungern. Lars reduziert das komplizierte Gefüge erst einmal auf einige wenige Individuen und auf das, was sie im Laufe der Zeit mit den anderen anstellen oder was mit ihnen geschieht: Sie fressen oder werden gefressen, sie pflanzen sich fort oder sie sterben. Von der Mathematik, die jetzt zum Zuge kommt, verstehe ich nur, dass sich das Verhalten jeder Art in einer Formel ausdrücken lässt. Für eine noch unbestimmte Anzahl “n” von Arten definiert man mögliche Verknüpfungen und deren Stärke. Gefressenwerden geht als Minus in die Gleichung ein, Vermehrung als Plus. Das alles stopft Lars in eine Blackbox namens “Jacobi-Matrix”. Damit kann er abschätzen, ob das System ein stabiles Gleichgewicht erreicht. Der nächste Schritt besteht darin, richtige Werte für real existierende Netze einzugeben und diese mit Beobachtungen in freier Wildbahn zu vergleichen: Welche Entwicklungen müssen zusammenkommen, um das Gleichgewicht zu stabilisieren oder zu stören? Klar, dass die Sache immer komplizierter wird, je mehr sich das Modell der Wirklichkeit nähert: Die Zahl der Teilnehmer steigt, ebenso die Zahl möglicher Beutetiere, die eine Art von Räubern frisst oder jene der Konkurrenten, die es auf die gleiche Beute abgesehen haben. Die mathematische Annäherung erlaubt ein Herumspielen mit Veränderungen, die in der Natur häufig nur schwer zu erkennen sind. Dabei hat sich herauskristallisiert, dass Nahrungsnetze stabiler sind, wenn die großen Räuber, die Löwen, Tiger oder Haie, wenig wählerisch sind, also viele verschiedene Arten lebenden Futters fressen, ihre Beutetiere hingegen sich auf wenige Nahrungsquellen spezialisieren. “Unsere Modelle bestätigen alle bisherigen empirischen Beobachtungen”, sagt Lars Rudolf, “und erlauben neue, überprüfbare Vorhersagen”.

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Was auf den ersten Blick wie ein Gemälde des konstruktiven Künstlers Richard Paul Lohse aussieht, ist ein Diagramm zur Darstellung der Stabilität von Ökosystemen. Mehr dazu in dem dazugehörigen “Science”-Artikel. Ich würde es mir an die Wand hängen.

Mit diesem mathematisch-physikalischen Ansatz lassen sich prinzipiell auch die Beziehungen zwischen Netzwerkknoten der Spezies Mensch beschreiben. So haben sich Anne-Ly Do, Thilo Gross und Lars Rudolf in einem inzwischen abgeschlossenen Projekt angeschaut, nach welchem Muster vernunftbegabte Wesen miteinander kooperieren, die dabei immer ihre eigenen Interessen und Ziele verfolgen, und wie sich dies über die Zeit auf die Verknüpfungen innerhalb des sozialen Gefüges auswirkt. Am Anfang sind alle Beteiligten gleichermaßen offen für Zusammenarbeit. Es kommt aber vor, dass Einzelnen der eigene Nutzen zu klein erscheint. Manche ziehen sich dann zurück, das heißt, die Verbindungen zu anderen “Knotenpunkten” des Netzwerks werden schwächer oder verschwinden sogar. Andere wiederum profitieren davon, dass sie in bestimmte Kontakte verstärkt investieren. Diese Letzteren haben am Ende des Beobachtungszeitraums eine privilegierte Stellung innerhalb des Beziehungsgeflechts, während diejenigen, die sich zurückgezogen haben, regelrecht abgehängt sind.

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Auch dieses Diagramm hat ästhetische Qualitäten: Soziales Netzwerk

“Das war nur ein Modell”, winkt Anne-Ly Do ab. Es gehe vor allem darum, allgemein zu erfassen, wie adaptive Netzwerke funktionieren. Also: Wie wird der Schwarm intelligent? Ob Menschen oder Maschinen – wie müssen sich die einzelnen Bestandteile den andern gegenüber verhalten, damit das ganze System sich an neue Entwicklungen oder Herausforderungen anpassen kann?

Anne-Ly Do entwickelt zurzeit eine neuartige Schreibweise, um Komplexität in einfach handhabbaren Symbolen ausdrücken und damit die Stabilität eines Systems berechnen zu können. Wie macht man das? “Ich schreibe die Formeln immer wieder auf”, erklärt Ly. Dann wieder sitzt sie einfach nur da, schaut sich den Symbolsalat an und versucht, Gesetzmäßigkeiten darin zu erkennen. Stunden-, manchmal wochenlang. Dabei kann es zu Überraschungen kommen: “Erst weiß man nicht, ob es überhaupt klappt. Und wenn man dann etwas sieht, kommt es einem unglaublich trivial vor!”

Dass ein Laie wie ich gar nichts finden würde, ist nur ein schwacher Trost. In diesem und weiteren Gesprächen mit Wissenschaftlern der Netzwerk-Gruppe, etwa mit Felix Droste und Dirk Stiefs, beginne ich immerhin etwas von der Faszination dieses Forschungsgebietes zu erahnen. Die Netzwerker bändigen das scheinbar Unübersichtliche, indem sie die geheimen Gesetze dahinter suchen und in Formeln bannen. Die Mathematik versetzt sie in die Lage, die wundersamen Veränderungen nachzuschöpfen, die Modellsysteme unter bestimmten Bedingungen durchlaufen: Sie können instabil werden, einen kritischen Zustand erreichen, bei dem sich die Teile etwa wie Wasser kurz vor dem Gefrieren verhalten, oder ganz kippen, wie ein Gewässer, in dem die Algenblüte alles Leben unter der Oberfläche erstickt. Egal, ob es um die Ausbreitung einer ansteckenden Krankheit geht, um die Selbstorganisation Tausender formloser Amöben zu einem Schleimpilz oder um das Speichern von Gelerntem im Gehirn: “Du legst einen Anfangszustand fest und stellst Regeln auf”, erklärt Felix das Vorgehen, “und dann schaust du, wie sich die Struktur des Netzwerks verändert.”

Am Ende kommen jedoch harte Ergebnisse heraus, mit denen sich Entwicklungen in realen Netzwerken beschreiben lassen, betont Dirk und zeigt ein dreidimensionales Diagramm.

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Es ist aus langwierigen Modellrechnungen für Nahrungsnetze hervorgegangen, wobei besonderes Augenmerk dem Gehalt an vorhandenen Nährstoffen galt. Wenn dieser eine bestimmte Grenze erreicht, springt das System plötzlich zwischen zwei Zuständen hin und her, es oszilliert.

A propos Nährstoffe. Pünktlich um zwölf treffen sich die einzelnen Knotenpunkte des Netzwerks “Netzwerk-Gruppe” an der Treppe, die zur Kantine des Instituts hinunter führt. Dann strebt das System für kurze Zeit einen Zustand maximaler Synchronisierung an: Erst wenn alle anwesenden Mitarbeiter der Gruppe ein Menü ausgewählt und sich damit um einen Tisch niedergelassen haben, wünschen sie sich höflich “Guten Appetit” und beginnen zu essen.

Kommentare (1)

  1. #1 KlausH
    August 31, 2010

    Eine sehr schöne Darstellung des Riesen-Themas “Netzwerke”, und eine plausible Andeutung der Werkzeuge, deren man sich zu ihrer Erforschung bedient.
    Könnten Sie mit Ihren bewährten Mitteln nicht ein bißchen näher auf das geschilderte Beispiel der Nahrungsnetze eingehen?
    Das Oszillieren würde mich besonders interessieren.
    Beste Grüße!