Eröffnungsrede des VHD-Vorsitzenden Prof. Dr. Werner Plumpe

48. Deutscher Historikertag, 28. September 2010
Berliner Congress Centrum

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
Exzellenz,
Herr Staatssekretär,
Magnifizenz,
sehr geehrte Frau Daston,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
meine Damen und Herren!

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Zum 48. Deutschen Historikertag darf ich Sie im Namen des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands in Berlin herzlich willkommen heißen. Der Humboldt-Universität, die den diesjährigen Historikertag wohlwollend aufgenommen hat, gilt unser besonderer Gruß. Sie begeht in diesem Jahr ihren 200. Geburtstag. Mit ihrem Namen verbinden sich nicht nur große Traditionen deutscher Geschichtswissenschaft; wie keine andere verkörpert sie auch die Geschichte der deutschen Universität im 20. Jahrhundert. Mit der Vereinigung ist sie wieder zur Universität im Herzen Berlins geworden, eine Entwicklung, die ohne die mutige Grenzüberschreitung der Menschen in der ehemaligen DDR nicht möglich gewesen wäre. Auch deshalb sind wir dankbar, daß Frau Bundeskanzlerin Merkel, deren persönlicher Lebensweg eng mit dieser Grenzüberschreitung verbunden ist, heute das Wort an die deutsche Historikerschaft richten wird. Seien Sie uns besonders willkommen.

Unser Thema „Über Grenzen” war bereits das Thema des Gründers der Berliner Universität, Wilhelm von Humboldt. In seinen Betrachtungen über die Weltgeschichte formulierte er Grundsätze der Forschung, die – wenn auch in anderer Diktion – auf eine internationale Öffnung der Geschichtswissenschaft hinauslaufen. Humboldt begriff die Weltgeschichte als Zusammenhang, die zwar in ihren einzelnen Teilen zu studieren, deren jeweiliger Zusammenhalt, deren gegenseitige Beeinflussung aber stets im Blicke zu halten sei.

Die heutige Geschichtswissenschaft drückt sich im Grunde nur anders aus, wenn sie den Zusammenhang der Weltgeschichte sieht und die vielfachen Zentrismen des Blicks relativiert; sie fordert darüber hinausgehend allerdings auch von sich selbst internationale Offenheit als historiographische Praxis! „Über Grenzen”: in diesem Motto drückt sich daher durchaus das Ende „national begrenzter Geschichtswissenschaften” aus. Weder von den Themen noch von den Verfahrensweisen und der Gesamtsicht her ist es heute sinnvoll, von nationalen Geschichtswissenschaften in einem mehr als formalen Sinne zu sprechen. Der Verband begrüßt diese Entwicklung, die vermehrte internationale Zusammenarbeit und die gegenseitige geistige Befruchtung außerordentlich.

Daß wir die American Historical Association als Partner für diesen Historikertag gewinnen konnten, und daß der amerikanische Botschafter hier und heute den Deutschen Historikertag begrüßen wird, ist für uns daher nicht nur eine außerordentliche Freude, sondern auch Zeichen gelungener Grenzüberschreitungen. Auch Ihnen, Herr Botschafter, gilt daher unserer besonderer Gruß und unser herzlicher Dank.

So auch Ihnen, verehrte Frau Spiegel. Gerade mit der amerikanischen Geschichtswissenschaft gibt es eine vielfältige Kooperation, und diese Kooperation selbst ist ein wesentlicher Motor weiterer Zusammenarbeit und Internationalisierung. Insofern ist die Überwindung von Grenzen geradezu ein Ideal, dem sich ja auch die Hochschulpolitik, wie wir nachdrücklich unterstützen, verpflichtet weiß, freilich mit bislang noch widersprüchlichen Ergebnissen. Die Studienreformen der letzten Jahre etwa haben uns in Bezug auf Internationalität, Flexibilität und Mobilität eher zurückgeworfen. Aber das wird sich hoffentlich ändern, wenn die neuen Studiengänge dem Gebotenen angepaßt sind – und die Bedingungen für die Mobilität von Lehrenden und Studierenden Grenzüberschreitungen auch wirklich zulassen.

Ganz so neu, wie es manchem scheinen mag, ist die Grenzüberschreitung in der Wissenschaft indes nicht. Dies hat uns ja bereits zu Beginn der Blick auf Wilhelm von Humboldts programmatische Aussagen gezeigt. Die historische Teildisziplin, die ich vertrete, die Wirtschafts- und Sozialgeschichte, war auch früher in nationaler Beschränkung schlicht unvorstellbar. Sie steht dabei keineswegs allein. Ranke, um nur ein Berliner Beispiel zu zitieren, etwa handelte mit großer Selbstverständlichkeit von den maßgeblichen Themen der europäischen Geschichte und er tat es – den Maßstäben seiner Zeit folgend – methodisch und theoretisch vorbildlich. Das war nicht überraschend, gute Wissenschaft kann per se nicht national beschränkt sein.

Gleichwohl war die ältere Geschichtswissenschaft auch von starren Grenzen gekennzeichnet. Vor allem war und blieb sie eine europäische und nordamerikanische Sache und war in ihrer Programmatik – zum Teil zumindest – in heute nicht mehr nachvollziehbarer Weise selbst grenzziehend, wenn z.B. Sonderwege beschworen oder nationale Eigenschaften in wertender Weise zu geschichtsmächtigen Kräften erklärt wurden.

Diese keineswegs allein deutsche Untugend hat dann freilich gerade in Deutschland im 20. Jahrhundert zerstörerischen Tendenzen Platz gemacht, die die internationale Gemeinschaft der Geschichtswissenschaft nachhaltig geschädigt haben. Hierauf bezogen ist unser diesjähriges Motto mehr als programmatisch. Es zeigt grundsätzlich an, daß sowohl thematisch wie methodisch die Ära der national begrenzten Geschichtserzählungen vorbei ist. Sie werden vielmehr selbst zum Gegenstand gegenwärtigen historischen Denkens, insofern die „nationalen Meistererzählungen” und ihre jeweiligen Moden als historische Kräfte zu analysieren und in ihrem Zustandekommen aufzuklären sind.

Um so wichtiger erscheint es uns daher, daß die Offenheit der Forschung ihren Niederschlag auch in den nationalen Geschichtspolitiken findet, die zum Teil in bedenklicher Weise alten Cliches folgen oder diese gar verstärken.

Nun kann das Gesagte, das sich im einzelnen breit entfalten ließe, den Eindruck erwecken, als sei jede Grenzüberschreitung zu begrüßen, als sei jede Grenzziehung ein illegitimer Akt der Ausgrenzung oder der Einsperrung. Man muß sich aber hüten, im normativen Überschwang der Grenzüberschreitungen die Realität aus dem Blick zu verlieren. Grenzen haben ja auch ihren guten Sinn. Grenzüberschreitung kann auch Orientierungsverlust bedeuten. Die Studienreformen der vergangenen Zeit und manche von außen gewünschte „Profilbildung” haben nicht selten die Grenzen zwischen den akademischen Disziplinen verwischt. Der Historiker ist indes als grenzenüberschreitender Gesprächspartner nur dort interessant, wo er ein guter Historiker ist und nicht ein akademischer Tausendsassa, der von allem Möglichen etwas, von Nichts aber viel versteht. Inter- und Transdisziplinarität setzen Disziplinarität voraus!

Bei allem Fortschreiten sind die Grenzen der akademischen Disziplin „Geschichte” daher ein wertvolles Gut. Auch scheint es uns – ganz allgemein – bei allen begrüßenswerten Erfolgen der Hochschulreformen der vergangenen Jahre geboten, die Grenzen der Universität stärker gegenüber Ansprüchen und Erwartungen jener zu betonen, die sich von ihr unmittelbar nützliche Effekte im Sinne ihrer Partialinteressen erwarten. Die Lage der öffentlichen Finanzen stärkt die Rolle der Drittmittelgeber, aber der Staat sollte nicht unter dem Etikett der „Autonomie” die Universitäten Erwartungen ausliefern, die weder realistisch noch wirklich legitim sind.

Auch scheint es den meisten von uns ganz verfehlt, daß der Staat sich etwa aus der Genehmigung von Studien- und Prüfungsordnungen zurückzieht, um diese in wenig legitimierte private Hände zu legen. All das führt nur zu Grenzverwischungen, wie sie mittlerweile auch in den Bezeichnungen zum Vorschein kommen, etwa wenn von Aufsichtsräten und Vorständen statt von Rektoraten und Präsidien die Rede ist. Universitäten sind aber keine Unternehmen. Sollten sie dazu werden, indem man sie verpflichtet, ihre Studiengänge wie Produkte zu vermarkten und auf zahlungswillige Studenten zu hoffen, dann wäre definitiv eine Grenze überschritten. Um es in der Sprache der Berater zu sagen: Auch die Wissenschaften, nicht zuletzt die Geschichtswissenschaften haben ein „Kerngeschäft”, das es zu stärken und zu schützen gilt. Denn gerade hierin liegt die Fähigkeit begründet, zur gesellschaftlichen Selbstaufklärung beizutragen.

Kommen wir daher zurück zu unserem Historikertag, der natürlich auch und immer ein Forum darstellt, solche Probleme zu besprechen. Vor allem steht unser Berliner Treffen im Zeichen des wissenschaftlichen Austausches und der großen Bereitschaft der deutschen Historikerschaft, sich mit ihrer Arbeit einer interessierten und kritischen Öffentlichkeit zu stellen. Die Vielfalt der Sektionen, die Vielfalt der Themen, die Vielfalt der Veranstaltungen im Rahmenprogramm unseres Kongresses – all das verspricht eine gute Woche für die Geschichtswissenschaft und jeden, der an ihr interessiert ist.

Das Motto „Über Grenzen” soll dabei von der Offenheit der Historikerinnen und Historiker zeugen, ganz im Sinne Johann Wolfgang Goethes, der, das sehen Sie mir als Frankfurter nach, das letzte Wort haben soll: „Es gibt”, schreibt er 1829, „keine patriotische Kunst und keine patriotische Wissenschaft. Beide gehören wie alles hohe Gute der ganzen Welt an und können nur durch allgemeine freie Wechselwirkung aller zugleich Lebenden in steter Rücksicht auf das, was uns vom Vergangenen übrig und bekannt ist, gefördert werden”. In diesem Sinne eröffne ich den 48. Deutschen Historikertag 2010 in Berlin.


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