Ist es das? War nicht erst kürzlich bei Kritisch gedacht, hier in den Scienceblogs, das genaue Gegenteil zu lesen: Wählen gehen ist irrational? Mit dieser Aussage, die sich auf das so genannte Wahlparadox stützt, wurde eine lange Folge z.T. kritischer Kommentare – zuletzt auch einige von mir – ausgelöst, in der scheinbar ohne Erfolg versucht wurde, diese Aussage zu entkräften. Meine eigenen Ausführungen dazu und Ulrich Bergers entsprechende Repliken kann man ab hier nachlesen, die muss ich jetzt nicht wiederholen. Und doch hört man hier die Nachtigall so laut trapsen, dass man kaum noch ein Auge zukriegt (ich schreibe dies in der Tat um etwa drei Uhr morgens). Was tun? Schauen wir erst mal zum Aufwärmen mal auf folgendes Problem:

i-4c85373268fe58ae7f3d79be595f2a9d-Dreieck.jpg


Es ist eine Aufgabe aus einem Mittelstufen-Geometrietest in den USA. Um die Dreiecksfläche zu berechnen, kann man sich natürlich der Formel “Grundlänge mal halbe Höhe” bedienen und diese Längen anhand des Pythagoras-Satzes ausrechnen. Oder man schaut sich einfach die Flächen an, die nicht zum Dreieck gehören: Die addieren sich ganz leicht auf 5,5 Einheiten, d.h. für das Dreieck bleiben von den neun Einheiten des Quadrats dann noch 3,5. In ebenso umkehrender Logik kann man auch an die Aussage “Wählen ist irrational” heran gehen; wenn dieser Satz richtig ist, dann muss auch der Umkehrschluss richtig sein: “Nicht wählen ist rational.” (Das Wörtchen “immer” kann man gedanklich gerne hinzufügen – das Wahlparadoxon postuliert schließlich eine praktisch universelle Gültigkeit.)

Erst mal zur Auffrischung, wie in Kritisch gedacht die Irrationalität dargelegt wird:

Der zusätzliche Nutzen B, der für mich aus meinem Wahlakt resultiert, tritt nur dann ein, wenn meine Stimme den Wahlausgang umdreht. Die Wahrscheinlichkeit P, dass das der Fall ist, ist selbst in einem kleinen Land wie Österreich so gut wie null, sobald die Wahlbeteiligung 0,1% übersteigt. Dem gegenüber stehen Kosten C, die dadurch entstehen, dass man zum Wahllokal marschieren und eventuell sogar Schlange stehen muss, was wertvolle sonntägliche Freizeit kostet. Selbst wenn diese Kosten sehr niedrig veranschlagt werden, liegen sie bei plausibler Abschätzung immer noch um Größenordnungen über dem erwarteten Zusatznutzen. Kurz gesagt, für meinen Nettonutzen U, wenn ich wählen gehe, gilt

U = P*B – C < 0.

Da dieser Nettonutzen negativ ist, werde ich als rationaler wahlberechtigter Bürger den Gang zur Wahlurne also tunlichst unterlassen.

Wenn P*B – C immer negativ ist, dann muss konsequent C – P*B immer positiv sein. Da im Falle des Nicht-Wählens der Zusatznutzen P*B’ genau den eingesparten Opportunitätskosten C entspricht, umgekehrt die Opportunitätskosten C’ des Nicht-Wählens dem entgangenen Zusatznutzen P*B entsprechen, muss konsequenter Weise auch P*B’ – C’ immer positiv sein.

In anderen Worten: Egal, wie die Wahl ausgeht, kann es dem Nichtwähler nur besser gehen. Oder noch mal anders: Es kann ihm nie schlechter gehen (damit sind natürlich nur die Effekte der Wahl selbst gemeint – ob er sich den Magen verdirbt oder mangels Bewegung, da ihm selbst der Weg zur Wahllokal zu weit war, Kreislaufprobleme erleidet, bleibt hier unberücksichtigt). Jetzt könnte ich nun tief Luft holen und eine ganze Reihe von Beispielen – real und konstruiert – bemühen, die belegen, dass es dem Einzelnen nach der Wahl durchaus schlechter gehen kann: Steuererhöhungen, sinkende Sozialleistungen, Einschränkung oder gar Abschaffung der Bürgerrechte, Berufsverbote – die Liste der Übel, die Wahlsieger durchsetzen können, ist lang. Aber ich glaube, dass die Aussage Dem Nichtwähler geht es nach der Wahl immer besser auch ohne große Beweiskette als absurd erkannt wird.

OK, wenn es dem Nichtwähler aber nicht immer besser geht, dann heißt das doch, dass sein Nettonutzen aus dem Nicht-Wählen-Gehen negativ sein kann. Der wird aber nur negativ, wenn P*B’ – C’ kleiner als Null ist. Was umgekehrt (siehe oben) bedeutet, dass P*B – C auch positiv sein kann. Damit ist also auch die Aussage

U = P*B – C < 0.

widerlegt; es kann auch gelten U = P*B – C > 0.

Q.e.d.

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Kommentare (64)

  1. #1 steffen
    25. Juni 2010

    Die Frage ist doch nicht, ob es dem einzelnen nach der Wahl absolut besser oder schlechter geht als vorher, sondern ob er einen Nutzen davon hat, wenn er wählen geht. Das Wahlergebnis kann man in guter Näherung als unabhängig von meiner einzelnen Stimme annehmen, so dass mein Nutzen gegen Null geht, während meine Kosten einen endlichen Wert (Opferung der Freizeit, etc.) haben, also C-P*B=C-0=C>0
    w.z.b.w.

  2. #2 Ulrich Berger
    25. Juni 2010

    @ steffen:
    Damit wirst du hier keinen Blumentopf gewinnen, fürchte ich. Das sag’ ich nämlich seit Wochen, aber man WILL es offenbar nicht verstehen.

    @ Jürgen:
    Da im Falle des Nicht-Wählens der Zusatznutzen P*B’ genau den eingesparten Opportunitätskosten C entspricht, umgekehrt die Opportunitätskosten C’ des Nicht-Wählens dem entgangenen Zusatznutzen P*B entsprechen, muss konsequenter Weise auch P*B’ – C’ immer positiv sein.

    Hähhh??? Und mir wirft man vor, ich drücke mich unklar aus…

  3. #3 Niara
    25. Juni 2010

    Wählen als Zufallsexperiment.
    Wenn Xi mit i aus {1,2,…,n} die Stimme der Person i beschreibt (z.B. X1 = SPD, X2 = CDU,…), so ist ja gerade Summe(Xi=SPD)/n gerade der Anteil der SPD an Stimmen.
    Wird nun n groß genug gewählt, ergibt sich gerade ziemlich genau die Wahrscheinlichkeit für die SPD als deren Wahlergebnis.
    Abweichungen von wenigen Stimmen machen nur Änderungen in den hinteren Nachkommastellen aus und sind daher vernachlässigbar.
    Ist also n groß genug, fällt die Stimme des einzelnen nicht ins Gewicht. Wird n aber immer kleiner (weil sich viele Leute denken “lohnt sich für mich ja nicht”), nimmt damit automatisch die Abweichung durch die “wenigen” Stimmen zu und das Gewicht der eigenen Stimme wird verstärkt.

    Das ganze hat kein Bisschen mit den Konsequenzen des Wahlausgangs zu tun, denn wie ich eben ungeschickt versucht habe darzulegen, hat der einzelne keinen Einfluss auf dieses Ergebnis! Er mag hinterher durch Steuererhöhungen, Berufsverbote etc. geknechtet werden und leiden, doch das hat (nahezu) nichts mit seiner persönlichen Stimmabgabe zu tun, denn ob er gewählt hat oder nicht, “wiegt” nicht schwer genug, als das es etwas am Wahlergebnis geändert hätte.

    Aber zurück zu den Zufallsvariablen, denn hier passt ein wunderbarer Vergleich: Die Wahrscheinlichkeit das eine stetige Zufallsvariable X irgendeinen Wert a (genau) annimmt, ist im Allgemeinen 0! (Weil die Fläche unter der Verteilungskurve genau am Punkt a eben nicht existent ist, das oben waren übrigens diskrete ZV, keine stetigen, für die gilt das nicht)
    Allerdings ergeben die unendlich vielen Wahrscheinlichkeiten von 0 in der “Summe” (nicht so ganz eben) dann 1 😉

    Das ganze mit dem Kosten nutzen Kram, dem “was wäre wenn alle so denken”, den Zufallsvariablen etc. ist sehr idealisierend. So käme eben nur eine bestimmte Menschengruppe auf die Idee so zu denken, angenommen ähnliche Menschen wählen nicht unabhängig Parteiverteilt die Parteien, sondern haben Tendenzen eben zu diesen, so sinkt bei den von diesen Menschen bevorzugten Parteien die Stimmzahl, die Wahlbeteiligung ebenso, aber bei weitem nicht stark genug um die “naive” Kosten-Nutzen Rechnung umzukehren.
    So denken die Leutchen immernoch “lohnt sich nicht für mich zu wählen” und so schädigen sie sich als Gruppe eben doch, auch wenn der einzelne nichts ändert.

    ps: Verallgemeinerungen wie immer, sind bis auf endliche ausnahmen schlecht 😉

  4. #4 Niara
    25. Juni 2010

    Meine Ausführung gilt natürlich für Mehrheitswahlen (da ich es aus einem Thread dazu gekannt zu haben meinte 😉 ), bei “Entscheidungswahlen” (oder wie man das nennt) wie dem Bundespräsidenten, Präsidenten der USA,…
    müsste man das ganze etwas anders angehen. Dazu bin ich aber nun wirklich zu faul. (Was mir aber bei einem Kommentar aus dem anderen Thread auffiel: Eine einzelne Stimme kann das Wahlergebnis nie “umkehren”, denn 50%:50% ist unentschieden, +1 -> Sieg, -1 -> Verlust. Aber von Verlust kommt man mit einer Stimme niemals auf Sieg, weil dazwischen (als Ganzzahliger Schritt!) immer Unentschieden läge… Folglich würde sich einer der Behauptungen nach, wählen bei diesem System nie(!) lohnen, selbst bei 0% Wahlbeteiligung ^^)
    Bei so einer “Entscheidungswahl” sinkt der Nutzen eher in Abhängigkeit von der Wahrscheinlichkeit das mein Kandidat (nicht) gewählt wird. Wenn es absehbar ist, das wir ohnehin gewinnen, lohnt es sich wohl weniger für mich. (Wie im anderen Thread erwähnt ist hierbei die Differenz ein wichtiger Punkt)

  5. #5 Helmut E.
    25. Juni 2010

    Jetzt könnte ich nun tief Luft holen und eine ganze Reihe von Beispielen – real und konstruiert – bemühen, die belegen, dass es dem Einzelnen nach der Wahl durchaus schlechter gehen kann: Steuererhöhungen, sinkende Sozialleistungen, Einschränkung oder gar Abschaffung der Bürgerrechte, Berufsverbote

    Spielen Sie darauf an, dass der “Einsatz” für den Wähler gering ist, ebenso wie die “Ersparnis” für den Nichtwähler, dass aber Gewinn bzw. Verlust für beide extrem hoch sein können, für den sehr sehr unwahrscheinlichen Fall, dass das Wahlergebnis von genau einer Stimme abhängt? Also ähnlich wie beim Lotto: minimale Gewinnchance, hoher Gewinn.

    Dieser Blickwinkel fehlt tatsächlich in Ulrichs Blog. Aber ohne großartig Berechnungen angestellt zu haben, schätze ich, dass der Effekt vernachlässigbar ist und die Aussage “wählen ist irrational” nicht ausser Kraft setzt.
    Die extrem geringe Wahrscheinlichkeit, dass aufgrund meiner Stimme die Wahl anders ausgeht, als sie ohne meine Stimme ausgegangen wäre, erschlägt alles. Selbst wenn mir das Nichtwählen nur 5 Minuten Zeitersparnis bringt und mir im Gegenzug Millionen € oder sogar mein Leben kosten könnte.

  6. #6 H.M.Voynich
    25. Juni 2010

    Die meisten Nichtwähler interessieren sich wahrscheinlich gar nicht für die extrem geringe Wahrscheinlichkeit, etwas ändern zu können, sondern für den extrem geringen Nutzen, den sie im unwahrscheinlichen Erfolgsfalle hätten. Sie sehen keinen wesentlichen Unterschied darin, welche Partei an der Regierung ist.

  7. #7 Jürgen Schönstein
    25. Juni 2010

    @Alle
    Lassen wir mal alle “Berechnungen” bei Seite: Es geht in meinen Ausführungen um die Entscheidung, nicht zu wählen. (@Steffen: Deswegen zielt Dein Einwand hier ins Leere: Ich erkenne ja gerade ausdrücklich an, dass P*B für den Wahlvorgang unendlich klein ist.) Deren Nettonutzen ist laut Ulrichs Modell immer positiv. Muss so sein, denn der Zusatznutzen des Nicht-Wählens muss – wenn ich keine neuen Parameter einführe (“ceteris paribus” nennt man das wohl) – den (eingesparten) Opportunitätskosten des Wählen-Gehens entsprechen. Umgekehrt wird der entgangene Nutzen des Wählens zu den Kosten des Nicht-Wählens. Kann man mir bis hierher folgen?

    Aber selbst das spielt eigentlich keine Rolle – Wenn Nicht-Wählen immer rational ist, muss der Nettonutzen immer positiv sein. Mehr braucht man hier gar nicht zu betrachten. Diese Aussage ist formal, wenn man sich an die von Ulrich vorgegebenene Formel hält, absolut schlüssig. Aber ist sie auch wahr, genauer gesagt: Ist sie immer wahr? Ist mein Nettonutzen auch dann noch positiv, wenn ich nach dem Verzicht auf den Wahlgang feststellen muss, dass meine Partei unerwartet die Wahl verloren hat? Wenn die Antwort “ja” lautet, dann wüsste ich gerne, wie der “Nutzen” hier definiert ist. Wenn “nein” – q.e.d.

    @H.M.Voynich

    Sie sehen keinen wesentlichen Unterschied darin, welche Partei an der Regierung ist.

    Das ist m.E. eine unzulässige Verallgemeinerung. Haben Sie noch niemals mit jemandem über Politik diskutiert?

  8. #8 H.M.Voynich
    25. Juni 2010

    @Jürgen Schönstein:
    Das ist der Querschnitt meiner Erfahrungen: ich bin noch keinem Nichtwähler begegnet, der irgendeine Partei favorisiert. Das Standardargument lautet: “wenn ich bei einem von denen mein Kreuzchen machen würde, wäre das eine Einverständniserklärung mit seiner Politik.”
    Aber ich lasse mich gern vom Gegenteil überzeugen: gibt es hier jemanden, der irgendeine Partei deutlich bevorzugt, und trotzdem nicht wählen geht?

  9. #9 Niara
    25. Juni 2010

    Wie ich vorhin andeuten wollte, kann es keinesfalls “immer” rational sein nicht zu wählen, denn wenn kein anderen wählen dürfte, wäre meine Entscheidung gewichtig genug, da sie das komplette Wahlergebnis bestimmt.
    Somit wäre der Zusatznutzen so extrem groß, das es den (ja als gering veranschlagten) Aufwand mehr als rechtfertigt und es damit rational wird zu wählen.

    Das es überhaupt nicht darum geht, das es IMMER so ist (auch unter den idealisierenden Bedingungen), wird schon im ursprünglichen Posting ihres Kollegen hier klar:

    Die häufig gehörte kopfschüttelnde Reaktion in Form des Einwands “Was, wenn alle so denken?!?” lässt sich ganz einfach beantworten: Dann steigt P stark an und U wird positiv, wählen gehen wäre dann aus individueller Sicht also wieder rational.

    Es wird eindringlich erwähnt, das es durchaus mindestens einen Weg gibt, wie Wählen als rational betrachtet werden kann, daher kann ich ihr bestehen auf die Wichtigkeit des “immer” nicht verstehen.

    Es ist eben eine Funktion die sich in Abhängigkeit ihrer Parameter ändert und daher für entsprechende C und B durchaus positiv werden kann. (für ein BC gelten muss.
    So wird für Wahrscheinlichkeit gegen 1 definitiv die Funktion positiv…

    Mag an meiner Müdigkeit liegen, allerdings kann ich ihrem Problem an der Sache gerade nicht mehr Folgen, verzeihen sie das bitte.

  10. #10 Jürgen Schönstein
    25. Juni 2010

    @H.M. Voynich
    Entschuldigung, ich hatte nicht genau hingesehen und den Einwand falsch verstanden – dass er für alle Wähler gelte. Stimmt, bei manchen (vielen?) Nicht-Wählern ist davon auszugehen, dass ihnen der Wahlausgang gleichgültig ist. Das heißt, ihr erwarteter Zusatznutzen vom Wahlgang ist bereits 0, und die Wahrscheinlichkeit, dass dieser eintritt, ist 1, P*B also in jedem Fall = 0. Natürlich wäre es diese für Gruppe irrational, wählen zu gehen – aber dieser Fall tritt ja schon per definitionem bei Nichtwählern nicht ein.

  11. #11 Niara
    25. Juni 2010

    Leider wurde am Ende mein Beitrag etwas zerstört durch HTML Probleme 🙂

    Die Funktion wird nur dann nie positiv, unabhängig von der Wahrscheinlichkeit, wenn C > B gilt. Dies sieht man aber leicht am Extremfall ein:
    Wenn meine Stimme das ganze Parlament bestimmt, so überwiegt der Nutzen nahezu jedem Aufwand. Folglich muss B > C gelten, besonders, da C als gering eingeschätzt wurde.

  12. #12 beka
    25. Juni 2010

    Für das Recht, sich zu einer Wahl schleppen zu dürfen, haben unzählige Menschen in der Vergangenheit mit ihrer Gesundheit oder gar mit ihrem Leben bezahlt. Wir brauchen wohl erst wieder eine Diktatur und ein paar Konzentrationslager für missliebige Gesellen, damit einige Leute begreifen, was rational und was irrational ist.

    Vielleicht kann das mal einer in die Kosten / Nutzen-Rechnung mit einbeziehen, damit dieses egozentrische Weltbild, das im Parallelfaden aufgebaut wird, aufhört.

  13. #13 Niara
    25. Juni 2010

    Beka: Du hast offensichtlich einen komplett falschen Eindruck von der Materie.
    Durch die Entscheidung eines einzelnen ändert sich das Wahlergebnis nicht, daher wird durch diese Entscheidung auch keine Diktatur entstehen. Sollte sich dagegen die Mehrheit dafür entscheiden ein solches System zu unterstützen, würde die einzelne Wahlstimme auch nichts helfen. (Dann wäre ohnehin Widerstand angebracht, unabhängig vom Wählen)

  14. #14 Jürgen Schönstein
    25. Juni 2010

    @beka @Niara
    Die Frage, ob in dem Modell der Nutzen des Wahlrechts an sich bewertet werden müsste, ist nicht unberechtigt. Deuten wir’s auch hier mal wieder um: Wenn ich nicht zur Wahl gehe, ist mein Nettonutzen positiv. Da dies immer der Fall ist, würde sich dieser positive Nutzen auch nicht ändern, wenn man mir – nur mir, nicht der Gesellschaft als Ganzes – das Wahlrecht wegnähme: P*B wäre exakt Null; die Opportunitätskosten sind zwar (da es dann an der “Opportunität” fehlt) schon schwerer zu bewerten, aber dennoch sicher größer als Null. Der Nettonutzen des aberkannten Wahlrechts wäre demnach positiv – man wurde Ulrich (sorry, ich meine das nicht ernsthaft persönlich, und schon gar nicht als eine Forderung) nach seinem Modell also einen Nutzen verschaffen, wenn man ihm das Wahlrecht aberkennt. Ob er dem wohl zustimmen würde?

  15. #15 Andreas
    25. Juni 2010

    @Jürgen Schönstein·
    Die Frage, ob in dem Modell der Nutzen des Wahlrechts an sich bewertet werden müsste, ist nicht unberechtigt.

    Aber dieser Nutzen ist doch im schönen B eingepreist. Niemand hat gesagt, dass Kosten und Nutzen nur geldwert sind. Die Wahrscheinlichkeit, dass mein Nichtwählen mir das Stimmrecht kostet, ist nur eben P. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich auf dem Weg zur Wahlkabine überfahren werde, ist höher als, dass ich mit meiner Stimme verhindere, dass ich hingerichtet werde.

  16. #16 Jürgen Schönstein
    25. Juni 2010

    @Andreas

    Aber dieser Nutzen ist doch im schönen B eingepreist.

    Ist er nicht. In Ulrichs Ausführungen steht ganz klar, dass B die Umkehr des Wahlausgangs ist. Der “Wert” des Stimmrechts als ein individuelles Bürgerrecht hängt auch nicht von der Wahlbeteiligung ab. Bestenfalls würde er also als ein B1, etwa in der Form P*B + B1 in die Formel eingehen müssen, wodurch dieser Ausdruck definitiv größer als Null wird. Dann hängt alles wieder davon ab, wie groß C ist, und das muss nicht unbedingt riesig sein – zum Beispiel, wenn man Briefwahl macht. Und die Sache mit dem Überfahrenwerden ist lahm, ganz lahm: Dieses Risiko ist unabhängig vom Wahlvorgang; es ist das gleiche Risiko, das ich eingehe, wenn ich zum nicht-wählenden Spaziergang mein Haus verlasse, ins Kino gehe, mir Zigaretten hole … es hat in dieser Betrachtung also keine Relevanz.

  17. #17 Sven Türpe
    25. Juni 2010

    Warum stimmt Ihr nicht einfach über die strittige Frage ab?

  18. #18 H.M.Voynich
    25. Juni 2010

    Mich erinnert die Problemstellung sehr ans Gefangenendilemma:
    https://de.wikipedia.org/wiki/Gefangenendilemma
    Man hat es plötzlich mit 2 verschiedenen Arten von Rationalität zu tun: die individuelle und die kollektive Rationalität.
    Die individuelle Strategie (C klein zu halten) ist solange die bessere, bis sie zu einer kollektiven Strategie wird.

  19. #19 H.M.Voynich
    25. Juni 2010

    @Jürgen Schönstein:
    “es ist das gleiche Risiko, das ich eingehe, wenn ich zum nicht-wählenden Spaziergang mein Haus verlasse, ins Kino gehe, mir Zigaretten hole … es hat in dieser Betrachtung also keine Relevanz. ”
    Das würde ich nicht sagen – man muß es jedoch aufs Jahr hochrechnen. Wenn ich im Jahr 2000 km zurücklege, und mich der Weg zur Wahlurne 2km kostet, dann senke ich die Gefahr des Überfahrenwerdens durch Nichtwählen um 0,1%. Klingt nicht viel, aber wenn man bedenkt, daß ich den Nutzen des Am-Leben-bleibens fast immer tausendfach höher bewerten würde als den Nutzen des Wahlausgangs, ist das kein unwesentlicher Faktor in der Gleichung. (selbstverständlich kann ich dasselbe Ergebnis erreichen, wenn ich einmal im Jahr weniger zum Büdchen Bierholen gehe. Wir können diesen Faktor also weglassen und stattdessen den Wert von B um ein erfrischendes Getränk erhöhen. Es sei denn, das Wahllokal befindet sich auf dem Weg zum Büdchen, und ich wollte da sowieso noch hin.)

  20. #20 Andreas
    25. Juni 2010

    @Jürgen Schönstein·
    Ist er nicht.

    Ist er doch. Prinzipiell kann nach der Wahl eine Partei eine verfassungsändernde Mehrheit haben, die das Wahlrecht abschaffen will und auch irgendwie kann und meine Stimme ist die, die das verhindert. Das einfache P*B ist nämlich eigentlich eine Summe über alle möglichen Wahlausgänge, die alle unterschiedliche Verhinderungswahrscheinlichkeiten und unterschiedliche Folgen haben, aber das wird dann vielleicht zu unanschaulich. Deswegen das einfache Modell mit nur zwei möglichen Wahlausgängen.

    Und die Sache mit dem Überfahrenwerden ist lahm, ganz lahm:

    Das ziehe ich zurück, wenn ich darf.

  21. #21 H.M.Voynich
    25. Juni 2010

    “stattdessen den Wert von B”
    ups, den Wert von P*B, also P*B+G(etränk).
    Nein, das ist nicht albern, denn G ist fast immer größer als P*B. Fast alles ist größer …

  22. #22 beka
    26. Juni 2010

    Alleine die Möglichkeit, überhaupt eine Wahl zu haben ist gesellschaftlich von einem so grossen Wert, dass sie mit in die Bilanz auf die Nutzenseite gehört. Das gilt unabhängig davon, ob der einzelne Wähler für sich einen messbaren Gewinn erzielen kann.

    Das gilt auch dann, wenn einzelne Wähler für sich entscheiden, dass ihnen die konkrete Wahl nichts bringt. Es steht natürlich jedem frei, für sich persönlich eine Bewertung in gut/schlecht, rational/irrational oder einfach/anstrengend vorzunehmen und für sich persönlich daraus eine persönliche Entscheidung in dafür/dagegen zu treffen.

    Die ganze Denke, aus einem auf ein egoistisches Maß reduzierten Kriteriensatz (“zum Wahllokal marschieren und eventuell sogar Schlange stehen”) eine irgendwie allgemeingültige Irrationalität abzuleiten (“Wählen gehen ist irrational”) und dem ganzen auch noch einen wissenschafftliche Anstrich geben zu wollen, halte ich für ausgesprochen destruktiv.

    Man erkärt auch die Aufwendungen für die Feuerwehr nicht für irrational, weil es bei einem selber noch nie gebrannt hat, und man sich den Wasserschaden gerne schenkt.

  23. #23 H.M.Voynich
    26. Juni 2010

    @beka:
    Bei der Frage, ob es rational ist, wählen zu gehen, hat “die Möglichkeit, überhaupt eine Wahl zu haben” von vornherein den Wert 1, und ändert somit nichts am Ergebnis.
    (“Irrational” soll hier nicht abwertend verstanden werden, sondern rein mathematisch.)
    Wenn die Gefahr besteht, durch Nichtwählen die Demokratie zu verlieren, dann ist diese bereits in B enthalten.

  24. #24 H.M.Voynich
    26. Juni 2010

    Ah, ich hab eine Idee, wie wir zusammenkommen können, Jürgen:
    Den Nutzwert, eine Diktatur zu verhindern, würde ich in jedem Fall beliebig hoch anlegen. Also egal, wie klein P ist, B wiegt es dann grundsätzlich auf.
    Doch wie hoch ist die Gefahr, daß uns eine Diktatur ins Haus steht? Können wir die sicher mit 0 angeben?
    Ist die Chance, eine Diktatur zu erhalten, um so viele Größenordnungen kleiner als die Chance, das Zünglein an der Waage zu sein? Die Geschichte lehrt uns, daß ersteres gelegentlich passiert.

  25. #25 H.M.Voynich
    26. Juni 2010

    Arghs, sorry für die vielen Posts, aber ich habe da auch wieder eine Schwachstelle entdeckt.
    Angenommen, wir haben es tatsächlich mit einer gewichtigen Gefahr zu tun, die Demokratie durch falsche Wahl zu verlieren:
    Wieviele Menschen treffen dann die richtige Wahl, um die Diktatur zu verhindern?
    Wieviele Menschen hatten 1933 mehr Angst vor einer kommunistischen Diktatur als vor einer nationalsozialistischen, und haben daher (in unseren Augen) genau die falsche Wahl getroffen? Wir können nur sagen, ob die Diktatur der Nazis verhindert hätte werden können, aber nicht, was andernfalls passiert wäre.
    Der Wähler muß nicht nur wählen gehen, er muß auch gut genug informiert sein (und eine nicht zu unterschätzende Prise Instinkt mitbringen), um nicht das Gegenteil von dem zu bewirken, was er beabsichtigt.
    Pumktum: Jede Abschätzung des Nutzens des Wahlgangs ist sinnlos, wenn die Wähler nicht gut genug informiert sind.
    Es ist beinahe schockierend, wie oft mir Leute sagen, daß sie Partei XYZ auf keinen Fall wählen würden, und dann ergibt das WahloMeter, daß das Programm eben dieser Partei am ehesten ihren sonstigen Ansichten entspricht.

  26. #26 Andreas
    26. Juni 2010

    H.M.Voynich·
    Es ist beinahe schockierend, wie oft mir Leute sagen, daß sie Partei XYZ auf keinen Fall wählen würden, und dann ergibt das WahloMeter, daß das Programm eben dieser Partei am ehesten ihren sonstigen Ansichten entspricht.

    Aber es gibt ja nicht nur Programm, sondern auch Weltanschauung. Der Wahlomat fragt nur das Programm ab und selbst da lässt er mehr als doppelt gewichten nicht zu.

  27. #27 Gregor
    26. Juni 2010

    Auf dem Weg zur Wahl versuche ich meiner Frau jedesmal zu erklären, dass Wählen aus individueller Sicht irrational ist. Und genaus sehe ich es – die Argumente sind ja hier schon (meines Erachtens sehr klar) dargestellt worden. Nur auf den Punkt Kosten der Informationsbeschaffung möchte ich noch mal hinweisen – denn der Gang zur Wahl dürfte ja eher kurz sein. Aber ohne begründete Meinung ist dieser Gang natürlich sinnlos.

    Und soll ich euch etwas sagen: Ich habe noch niemals eine Wahl verpasst (und es waren schon einige). Ja mei – ich bin halt irrational in solchen Dingen – ich kann es mir leisten, ich bin ja auch nur ein Mensch.

  28. #28 Sven Türpe
    26. Juni 2010

    beka,

    Man erkärt auch die Aufwendungen für die Feuerwehr nicht für irrational, weil es bei einem selber noch nie gebrannt hat, und man sich den Wasserschaden gerne schenkt.

    Interessanterweise ist die Feuerwehr für den Bürger vor allem dann nützlich, wenn es bei anderen brennt. Bei einem Wohnungsbrand kann auch eine schnelle Feuerwehr nicht mehr viel vom Inhalt retten. Die Schadensreduktion der unmittelbar Betroffenen durch den Feuerwehreinsatz dürfte recht beschränkt bleiben. Viel wichtiger ist die Feuerwehr für die Nachbarn und Nachbarsnachbarn, bei denen es noch nicht brennt. Die Feuerwehr (und der vorbeugende Brandschutz) sorgen meistens erfolgreich dafür, dass sich ein Feuer nicht ausbreitet. In diesem Sinne ist die Feuerwehr auch dann nützlich für mich, wenn es bei mir nie brennt, denn sie ist ein Faktor, der diesen Zustand wahrscheinlicher macht.

    In die Diskussion passt die Feuerwehranalogie deswegen erst recht. Wer Modelle baut, indem er willkürlich Aspekte ignoriert oder betont, ist ein Scharlatan. Oder ein Nerd, der sich die Welt idealer wünscht als sie tatsächlich ist. Wer beispielsweise über hypothetische Wirkungen einzelner Stimmen in hypothetischen Grenzsituationen nachdenkt und dabei weder politische Kräfteverhältnisse noch die Unschärfen realer Wahlabläufe berücksichtigt, diskutiert über eine Phantasiewelt. In der Realität gibt es tote Briefwähler, unerwartete Ereignisse am Wahltag und bizarre Auszählungsverfahren mit manchmal paradoxen Wirkungen, so dass einzelne Stimmen stets als Rauschen gelten müssen. Außerdem sind Wahlen vor allem dazu da, dass man alte Parlamente und Regierungen friedlich loswird; die Neubesetzung muss gar nicht perfekt sein, nur akzeptabel. Auch das ignorieren Leute mit simplen Modellen gerne.

  29. #29 Helmut E.
    26. Juni 2010

    @beka
    Nimm zur Kenntnis, dass Wissenschaft objektiv ist. Sie beschreibt Dinge so wie sie sind, und nicht so wie du sie gerne hättest. Die Beschreibung muss moralisch nicht unbedingt in dein Weltbild passen. Deine Denkweise ist seit ca 500 Jahren überholt. Damals konnte man z.B. nicht ungestraft feststellen, dass sich die Erde um die Sonne dreht weil diese Tatsache einfach nicht sein durfte. Glaub mir, ein derartig engstirniges Weltbild bedroht unsere Demokratie viel stärker als die harmlose Feststellung, dass wählen nicht rational ist.

    @Jürgen Schönstein
    Der Hinweis auf “Aberkennung des Wahlrechts” ist ein interessanter theoretischer Ansatz. Die Hochrechnungen am Wahlabend sind, wie wir wissen sehr zuverlässig, selbst wenn erst 2% der Stimmen ausgezählt wurden. Ich behaupte: würde man vor der Wahl 10% der Bevölkerung randomisiert auswählen und allen anderen das Wahlrecht absprechen, die Wahl würde in 99.99999% aller Fälle das selbe Ergebnis liefern als wären 100% der Bevölkerung wählen gegangen. Der Aufwand wäre aber deutlich reduziert.

  30. #30 Sven Türpe
    26. Juni 2010

    BTW, ist unter den hier diskutierenden Brains mal jemand auf die Idee gekommen, dass eine Wahl unabhängig vom Ausgang mit Kosten verbunden ist und dass diese Investition wertvoller wird, wenn man hingeht? Vielleicht wird das Wählen ja schon dadurch rational, dass man wesentliche Aspekte der Realität im Modell berücksichtigt.

  31. #31 Sven Türpe
    26. Juni 2010

    Helmut E.,

    Nimm zur Kenntnis, dass Wissenschaft objektiv ist.

    Richtig müsste dieser Satz lauten: “Amerikanische Wissenschaftler haben herausgefunden, dass Wissenschaft objektiv ist.”

    Ich behaupte: würde man vor der Wahl 10% der Bevölkerung randomisiert auswählen und allen anderen das Wahlrecht absprechen, die Wahl würde in 99.99999% aller Fälle das selbe Ergebnis liefern als wären 100% der Bevölkerung wählen gegangen.

    Es kommt aber gerade darauf an, dass jeder mitmachen könnte, wenn er wollte. Nur so wird das Ergebnis gesellschaftlich akzeptabel. Außerdem müsste man das Zehn-Prozent-Verfahren aufwändiger überwachen und könnte Manipulationsvorwürfe doch nie überzeugend zurückweisen.

  32. #32 Ulrich Berger
    26. Juni 2010

    Seltsam: Wenn auf einem Physikblog jemand kommentiert, er fühle sich energiegeladener wenn er 3 kg abnimmt, was E = mc^2 widerlegen würde, dann wird er als Troll verspottet. Aber eine Binsenweisheit aus der VWL wird mit Bomben und Granaten bekämpft und kein Argument ist blöd genug, dass sich nicht jemand findet, der es ernsthaft einbringt.

  33. #33 Sven Türpe
    26. Juni 2010

    Welches wäre denn der anzustrebende Umgang mit Binsenweisheiten und den sich damit Wichtigmachenden?

  34. #34 Helmut E.
    26. Juni 2010

    Es kommt aber gerade darauf an, dass jeder mitmachen könnte, wenn er wollte. Nur so wird das Ergebnis gesellschaftlich akzeptabel. Außerdem müsste man das Zehn-Prozent-Verfahren aufwändiger überwachen und könnte Manipulationsvorwürfe doch nie überzeugend zurückweisen.

    Warum kommt es gerade darauf an? Warum nur dann gesellschaftliche Akzeptanz? Worin bestünde der Mehraufwand in der Überwachung?

  35. #35 Sven Türpe
    26. Juni 2010

    Warum kommt es gerade darauf an? Warum nur dann gesellschaftliche Akzeptanz? Worin bestünde der Mehraufwand in der Überwachung?

    Die zufällige Auswahl einer Teilmenge der Bevölkerung als Stellvertreter des Restes bietet allerlei naheliegende Möglichkeiten der Einflussnahme. Sie bietet gleichzeitig auch keine Möglichkeit, die korrekte Auswahl ohne Einflussnahme zu beweisen. Mit welcher Begründung also wollte man die übrigen 90% dazu bringen, das Wahlergebnis der Zufallselite zu akzeptieren? Der Witz an Wahlen (und allerlei anderen gesellschaftlichen Institutionen, etwa der Polizei und den Gerichten) ist ja gerade, dass sie als Institutionen von fast allen akzeptiert werden, selbst wenn man in der Sache unterschiedlicher Ansicht ist. Und das soll so sein, denn vom Wahlergebnis sind alle betroffen, auch diejenigen, die sich ein anderes gewünscht hätten. Deshalb dürfen alle mitwählen, zum Beispiel auch diejenigen, von denen jeder weiß, dass sie keine Chance haben.

  36. #36 Jürgen Schönstein
    26. Juni 2010

    @Ulrich Berger

    Seltsam: Wenn auf einem Physikblog jemand kommentiert, er fühle sich energiegeladener wenn er 3 kg abnimmt, was E = mc^2 widerlegen würde, dann wird er als Troll verspottet. Aber eine Binsenweisheit aus der VWL wird mit Bomben und Granaten bekämpft und kein Argument ist blöd genug, dass sich nicht jemand findet, der es ernsthaft einbringt.

    Sind die Argumente wirklich “blöd”, Ulrich? Ist das nicht ein “ad hominem”, das sich ein kritischer Denker wie Du eigentlich in jeder Argumentation verbitten würde?

    Erst mal zur “Binsenweisheit”: Dass das Gewicht meiner Stimme abnimmt, je größer die Wahlbeteiligung ist, ist natürlich eine Binsenweisheit, und die kann ich jederzeit nachvollziehen. Aber das alleine ist ja noch kein Paradoxon, sondern lediglich ein Dilemma – etwa vergleichbar dem Dilemma des Käufers, dass er durch seine Nachfrage den Preis erhöht und damit seinen Nutzen verringert. Aber ebenso wenig wie letzteres zu einem “Kaufparadoxon” hochstilisiert wird, darf man aus ersterem ein Wahlparadoxon konstruieren.

    Wo liegt denn das Problem mit dem angeblichen Paradoxon? Zum einen darin, dass es einer der simpelsten Falsifizierungsmethoden nicht standhält: Der Umkehrschluss – Nichtwählen ist rational – produziert einen internen Widerspruch: Der Nutzen des Nichtwählens muss immer positiv sein. Das ist mit der Realität nicht vereinbar. Von einer Wissenschaft erwarten wir aber, dass sie Modelle entwickelt, die reale Vorhersagen erlauben, also in der Lage sind, die Realität möglichst korrekt abzubilden.

    Ich zitiere hier mal aus einem Kommentar Ulrichs im Parallel-Thread:

    Definiere A als die Aussage “Menschen verhalten sich in der Wahlentscheidung rational.” Definiere B als die Aussage “Menschen gehen zur Wahl.”
    Meine Rechnung zeigt: A –< nicht-B. Das ist logisch äquivalent zu: B –< nicht-A.
    Die Beobachtung zeigt: B. Also gilt: nicht-A.

    Ich erlaube mir mal, das Paradoxon ein wenig umzuformulieren:
    Mit der Annahme A ist Y nicht rational zu erklären. Darf man daraus gleich folgern “Y ist irrational”? Was ist mit der Erklärung “Annahme A ist falsch”? Was genau ist den eigentlich die Annahme A? In Ulrichs Beispiel ist es, dass

    nach seinen Motiven für die Beteiligung an der Wahl befragt, antwortet fast jeder Urnengänger, er würde seinem Kandidaten bzw. seiner Kandidatin zum Sieg verhelfen wollen.

    Daraus wird dann, 1. dass der Nutzen B nur eintritt, wenn der Kandidat oder die Kandidatin die Wahl gewinnt, und 2. dass er nur dann eintritt, wenn genau diese eine Stimme die Wahl entscheidet. Denn bei weniger Stimmen wird B nicht realisiert, bei mehr Stimmen der Wert der eigenen Stimme als wahlentscheidend zerstört. Dieser Wahlausgang – dass tatsächlich genau eine Stimme die Wahl entscheidet – ist selbstverständlich mit einer so geringen Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass P tatsächlich gegen Null geht. Aber ist es das, was die Wähler gesagt haben? Ist es das, was den Wähler zur Urne treibt?

    In der Realität wäre so ein Ergebnis ein Nicht-Ergebnis, ein Patt, denn die eine Stimme würde innerhalb der Zählgenauigkeit liegen und die Wahl daher als nicht entschieden erklärt. Allein deshalb ist diese bizarre Annahme, das sei was der Wähler wolle, schon absurd. Aber es geht noch weiter: Was ist, wenn der Wähler seinem Kandidaten nicht nur zu einem haarkleinen Sieg verhelfen will, sondern will, dass er einen klaren Sieg erreicht? Oder wenn er, bei Parlamentwahlen, erreichen will er, dass seine Partei möglichst viele Sitze hat, um alle erdenklichen Abstimmungsmehrheiten zu erringen (zum Beispiel verfassungsändernden 2/3-Mehrheiten etc.)? Oder wenn er will, dass sein Kandidat selbst im Fall einer Niederlage genug Stimmen hat, die seine politische Existenz sichern und ihm bei der nächsten Wahl zu einer guten Startchance verhelfen? Etc. etc. – kurz: Es geht bei Wahlen in der Realität doch um viel mehr als nur das kindische “meine Stimme soll die einzige sein, die die Wahl entscheidet”. Und jedes dieser Ziele, jeweils mit seiner eigenen Erreichungswahrscheinlichkeit (und nahezu jede dieser Wahrscheinlichkeiten deutlich größer als Null) geht additiv in die Kosten-Nutzen-Rechnung ein: Selbst wenn ich das eine nicht erreiche (den Wahlsieg), bleibt das zweite (ein dickes Stimmpolster, beispielsweise) erreichbar. Also statt

    U = P*B – C < 0

    muss es wohl eher heißen

    U = (P1*B1 + P2*B2 + … Pn*Bn) – C

    und ob auch dann U immer negativ ist, sehe ich hier schon gar nicht mehr, denn für einige Nutzen ist P relativ groß.

    Zum Beispiel für jenen, den ich oben im Prinzip schon skizziert habe: Aus Ulrichs Argument folgt ja zwingend, dass das Wahlrecht nicht nur entbehrlich ist, sondern sogar den Nutzen des Wählers mindert. Wie bitte? Muss ja so sein: Der Nettonutzen des Wählengehens ist negativ, der des Nicht-Wählens daher stets positiv. Da mein Nutzen also nur steigen kann, wenn ich nicht wähle, kann ich auch auf mein Wahlrecht komplett verzichten, ohne dass mein Nettonutzen geschmälert wird. Mehr noch, ich würde selbst dann noch prrofitieren, wenn mir das Wahlrecht aberkannt wird (wir gehen hier immer davon aus, dass mit Wahlen “freie Wahlen” gemeint sind, OK?). In anderen Worten: der Wert des Wahlrechts wäre somit kleiner als Null. Und dies widerspricht nun ausdrücklich der Realität: Das freien Wahlrecht ist ein sehr hoch bewertetes Gut, das in der Geschichte (und in manchen Ländern noch heute) mit sehr hohen Opfern erstritten werden musste.

    Wenn das Wahlrecht aber einen Wert hat, dann wird der daraus resultierende Nutzen – den vielleicht nicht jeder, aber mit Gewissheit viele Wähler aus der Wahl haben – genau dann realisert, wenn man sein Wahl- oder Stimmrecht ausübt. Und die Wahrscheinlichkeit P, dass er eintritt, ist in unseren Ländern exakt 100 Prozent (oder 1, je nachdem, wie man rechnen will).

    Auf die Opportunitätskosten will ich hier gar nicht groß weiter eingehen, denn die sind – auch wenn Ulrich und andere das Gegenteil behaupten – eher gering. Im geringsten Fall betragen sie das Porto eine Postkarte; selbst die angeblichen “Informationskosten” (begründet damit, dass ich ja schließlich einen großen Aufwand treiben muss, um mich über die Kandidaten zu informieren) sind ein echter Strohmann, denn nirgendwo steht, dass ich nur wählen darf, wenn ich alles – oder auch nur irgend etwas – über die Kandidaten weiß. Sieht man mal davon ab, dass ich aus der Sicht des Journalisten sagen würde, dass Information eher in die Kategorie des Nutzens gehört. Also dass C so groß sein soll, das es selbst unter Berücksichtigung aller anderer Zusatznutzen den Nettonutzen des Wählengehens unter Null drückt, halte ich in jedem Fall für zweifelhaft. Und ja: Auch C ist übrigens eine Größe, die mit der Zahl der abgegeben Stimmen immer kleiner werden kann – weil es beispielsweise dann mehr Wahllokale gibt (was die Distanz zum Wahllokal verringert), weil man u.U. mit seinem Nachbarn im Auto mitfahren kann, oder weil der Weg zum Wahllokal besser gesichert ist (damit mich keiner absichtlich überfährt – oder wenigstens dann aus so vielen Wahlgänger ausswählen kann, dass mein anteiliges Risiko, der zu Überfahrende zu sein, schrumpft), oder weil es weniger Versuche gibt, mich am Wählen zu hindern, wenn wir Wähler – sagen wir mal, in Ost-Timor oder so – in großen Mengen anrücken.

    Also Ulrich: Ist das alles wirklich “blöd”?

  37. #37 Ulrich Berger
    26. Juni 2010

    @ Jürgen und alle die es noch interessiert:

    Sind die Argumente wirklich “blöd”, Ulrich? Ist das nicht ein “ad hominem”…?

    Sind Argumente Menschen? Ist es wirklich ein ad hominem, wenn ich ein Argument als “blöd” bezeichne? Habe ich das Argument damit etwa gar beleidigt? Oder wurde es zum ad hominem, weil Sven Türpe sich offenbar angesprochen fühlt?

    Dass das Gewicht meiner Stimme abnimmt, je größer die Wahlbeteiligung ist, ist natürlich eine Binsenweisheit, und die kann ich jederzeit nachvollziehen.

    Verzeihung, aber das hat man bisher in deinen Ausführungen nicht gemerkt. Im Gegenteil. Ich vernehme es aber mit Freude – zumindest das ist damit geklärt.

    Aber ebenso wenig wie letzteres zu einem “Kaufparadoxon” hochstilisiert wird, darf man aus ersterem ein Wahlparadoxon konstruieren.

    Darf man nicht? Dann beschwer dich bitte nicht bei mir, sondern bei Anthony Downs (1957) und jenen tausenden Menschen, die das Phänomen seit 53 Jahren so nennen!

    dass es einer der simpelsten Falsifizierungsmethoden nicht standhält: Der Umkehrschluss – Nichtwählen ist rational – produziert einen internen Widerspruch: Der Nutzen des Nichtwählens muss immer positiv sein.

    Der angebliche innere Widerspruch existiert nicht. Was du mit “immer” meinst ist ebenso unklar, wie die Erklärung in deinem Posting oben. Man vergleicht zwei Situationen und präferiert die mit dem höheren Nutzen. Ich weiß nicht, was daran so schwer zu verstehen ist?

    Übrigens ist der Zusatznutzen des Nichtwählens auch nicht “immer positiv”, wie du hartnäckig behauptest, sondern null. “Zusatz-” bezieht sich nämlich auf die status quo Position des Nichtwählens.

    Was ist, wenn der Wähler seinem Kandidaten nicht nur zu einem haarkleinen Sieg verhelfen will, sondern will, dass er einen klaren Sieg erreicht?

    Darauf habe ich bereits mehrmals geantwortet. Deine Frage impliziert, dass du glaubst, eine einzelne Stimme könne aus einem knappen Sieg einen klaren Sieg machen. Ist dir das bewusst? Willst du wirklich, dass deine Leser das glauben? Oder könnten wir das nicht vielleicht als offensichtliche Illusion zu den Akten legen?

    Also Ulrich: Ist das alles wirklich “blöd”?

    Es ist unnötig, dass du selbst dich angesprochen fühlst – deswegen hatte ich oben explizit von blöden Argumenten von “Kommentatoren” gesprochen. Aber wenn du es schon wissen willst: Nein, was du schreibst ist nicht “blöd”, aber einiges davon ist offenbar sehr wenig durchdacht, demonstriert ein (bewusstes?) Missverstehen von elementaren Sachverhalten und folgt m.E. der Idee, dass nicht sein kann, was nicht sein darf.

  38. #38 Ulrich Berger
    26. Juni 2010

    Nachtrag:

    Der Nettonutzen des Wählengehens ist negativ, der des Nicht-Wählens daher stets positiv.

    Das dieser Schluss – wie eben dargelegt – falsch ist, erübrigen sich alle darauf aufbauenden Argumente (“Wahlrecht” etc.), deshalb bin ich darauf auch nicht weiter eingegangen.

  39. #39 pseudonym
    27. Juni 2010

    Kennt jemand die Kurzgeschichte Franchise von Isaac Asimov? Ein Computer wählt einen representativen Bürger aus, dessen Entscheidungen dann eben das Wahlergebnis sind, spart enorm Kosten. Aber “stimmt” das Ergebnis dann?

    Ich denke, es gibt aus den beiden Blog-Posts zwei, vielleicht drei Diskussionslinien:

    1. im Modellrahmen, hier hat m.E. Herr Schönstein theoretisch, Herr Berger praktisch (was die österreichischen Präsidentenwahlen angeht) Recht,
    2. Kritik am Modell selbst,
    3. manchen scheint bei einer individuellen Entscheidung orientiert an diesem Modell mulmig zu sein.

    Der Versuch einer Zusammenfassung und mein Senf:

    1. Im Modellrahmen:

    Die vollständige Nutzenfunktion des Wählens im von Herrn Berger angeführten Modell lautet doch:

    U = P*B – C , falls er wählt
      = 0 , falls er nicht wählt

    Über P, B, C wissen wir nicht viel. In C sind sowohl Opportunitätskosten enthalten (was hätte er mit welchem Nutzen getan, wäre er nicht zur Wahl gegangen) als auch die Transaktionskosten (Abnutzung der Schuhsohlen, Benzin, was weiß ich). Ich finde den Einwand berechtigt, dass C sehr niedrig sein kann, zum Beispiel bei der Briefwahl. Kosten, sich zu informieren, gehören nicht unbedingt zur Wahl; ob das sozial wünschenswert ist, ist eine andere Frage. Wie hoch P*B ist, hängt von der erwarteten Wahlbeteiligung und dem persönlichen Nutzen aus dem Wahlergebnis ab.

    Gilt zwangsweise immer U <= 0? Nein, es ist natürlich theoretisch denkbar, dass P*B > C. Praktisch wird das bei den österreichischen Präsidentenwahlen nicht der Fall sein. Aber es lassen sich natürlich leicht Wahlen konstruieren, in denen für einzelne Wähler P*B > C.

    2. Kritik am Modell

    Das ist m.E. eigentlich viel stichhaltiger. Irgendwie muss doch das, was in den Köpfen der Menschen steckt, heraus, um die “richtigen” politische Entscheidungen treffen zu können.

    Wahlen sind mit hohen Kosten verbunden, einmal die Summe der Einzelkosten aller Wähler, dazu die Organisationskosten. Natürlich könnte man versuchen Kosten zu sparen und irgendwie repräsentative Umfragen machen, Franchise lässt grüßen.

    Ein paar Punkte, warum allgemeine Wahlen repräsentativen Umfragen gegenüber vielleicht Vorteile haben, stehen ja schon oben. Wie es mit Stichproben so ist – eine Restunsicherheit, ob die Umfrage wirklich den Willen der Mehrheit spiegelt, bleibt. Man könnte jetzt natürlich, wir sind ja in einer ökonomischen Betrachtung, mit dem Grenznutzen vs. Grenzkosten einer größeren Stichprobe argumentieren. Aber ich finde es schon ganz gut, dass jeder zumindest die Möglichkeit hat, über entscheidende politische Organe abzustimmen.

    Nun nehmen wir mal an, es gibt die Wahl zwischen A und B (das könnte national die Entscheidung über den Präsidenten oder zum Beispiel lokal über den Bau eines Schwimmbads sein). Es gibt n, die A möchten, m, die B möchten (Unentschiedene kann man im folgenden außen vor lassen und wir nehmen an, niemand hat einen Anreiz zu schwindeln). Jetzt weiß aber niemdand, ob n > m. Diese Information – ob Mehrheit für A oder B – ist ein öffentliches Gut, dass in Wahlen bereitgestellt wird. Der, der A möchte, aber – u.U. individuell rational – nicht zur Wahl geht, ist jetzt ein Trittbrettfahrer. Er profitiert von denen, die ebenfalls A wollen, zur Wahl gehen und dafür sorgen, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Gibt es zu viele A-Trittbrettfahrer und nicht genug B-Trittbrettfahrer, stimmt die in den Wahlen ermittelte Information nicht mehr. Pech gehabt für die A-Leute, selber schuld, möchte man sagen. Aber volkswirtschaftlich gesehen wird eben die optimale soziale Wohlfahrt wie es so schön im Ökonomendeutsch heißt, nicht mehr realisiert. Individuelle Rationalität kann also hier kollektiv schädlich sein, darauf hat ja auch schon jemand hingewiesen.

    Warum gehen trotzdem so viele zur Wahl? Um sie zu überwinden, haben sich Normen etabliert. Von einer Wahlnorm war ja schon in der Diskussion zum Originalbeitrag die Rede. Damit ändert sich die Nutzenfunktion. Es gibt auf einmal weitere Kosten K – man fühlt sich schlecht, muss sich rechtfertigen, wenn man nicht zu Wahl geht. Und, voila, jetzt kann noch viel eher die individuell rational Entscheidung (Nutzenmaximierung und unter Einhaltung aller möglicher Präferenzaxiome) die kollektiv richtige Entscheidung sein: wählen gehen, wenn K > C.

    U = P * B – C, wenn man wählt
      = -K , wenn man nicht wählt

    (Man könnte natürlich auch eine Wahlpflicht einführen mit einem “ich enthalte mich” Kästchen und Nichtteilnahme mit Kosten K bestrafen. Wäre das besser als eine gefühlt “freiwillige” Teilnahme?)

    3. Damit sind wir bei der individuellen Entscheidung, erklärt an dem ursprünglichen Modell.

    Wenn Herr Berger nicht wählt, nicht, weil er unentschieden ist, sondern weil es ihm “zu teuer” ist, ist bei ihm also K wohl nahezu 0, er sieht keine ethische Verpflichtung. Die Normverletzung bringt ihm Kritik, es steigt vielleicht K. Wenn das so ist, könnte das kollektiv gesehen, eben auch gut so sein.

    Vielleicht mag es bei den österreichischen Wahlen nicht besonders verwerflich sein, nicht zu wählen. Ich denke, man sollte sich jedoch davor hüten, allgemein für eine individuelle Rationalität ohne Berücksichtigung von solchen gesellschaftlichen Normen und damit für Trittbrettfahrerverhalten zu plädieren – außer natürlich Herr Berger ist für eine Partei, die mir nicht gefällt, und tut es nur in diesen Kreisen 🙂

  40. #40 Helmut E.
    27. Juni 2010

    Vielleicht mag es bei den österreichischen Wahlen nicht besonders verwerflich sein, nicht zu wählen.

    Dazu sei angemerkt, dass Ulrich Berger anlässlich der österreichischen Bundespräsidentenwahl gebloggt hat. Das ist jenes Amt, welches in Deutschland nicht vom Volk sondern direkt von der Bundeskanzlerin – äh Verzeihung – vom Parlament vergeben wird. Ist das nun verwerflich? Leben die Deutschen deshalb in einer Diktatur?
    Andere Länder, andere Sitten (bzw. anderes Wahlrecht) Auch das US-amerikanische Wahlverfahren mag einigen Europäern unfair scheinen. Umgekehrt ist es aber genauso.

    Dass “Demokratie ein wertvolles Gut” ist, bestreitet niemand. Aber es ist für die Betrachtung, ob ein einzelner Wähler rational handelt, nicht von Bedeutung. Jedes dieser “Argumente” geht in die Richtung “das Wahlparadoxon darf nicht stimmen, weil die Konsequenz daraus zu furchtbar wäre”. So argumentieren sonst nur Esoteriker.

    Was ist, wenn der Wähler seinem Kandidaten nicht nur zu einem haarkleinen Sieg verhelfen will, sondern will, dass er einen klaren Sieg erreicht? Oder wenn er, bei Parlamentwahlen, erreichen will er, dass seine Partei möglichst viele Sitze hat, um alle erdenklichen Abstimmungsmehrheiten zu erringen.

    Das Prinzip ist doch immer das gleiche. Ich habe eine Stimme. Mit dieser Stimme kann ich aus einem schwachen Sieg keinen klaren Sieg machen. Und was die Parlamentssitze anbelangt: die Chance, dass meine Stimme den Ausschlag gibt, dass meine favorisierte Partei einen zusätzlichen Sitz bekommt, ist zwar größer als wenn es nur um den Wahlausgang zweier Kandidaten geht. Aber sie ist immer noch vernachlässigbar klein. So wie homöpathische Dosierungen. Egal ob D28 oder D30, es ist in beiden nix drin.

    Ein objektives Argument gegen das Wahlparadoxon wurde bisher nicht vorgebracht. Aber selbst die subjektiven Argumente sind schwach, wie z.B. das mit der hauchdünnen Wahlentscheidung von knapp 600 Stimmen im Fall George Bush. Dieser Fall spricht imho sogar für das Paradoxon. Hat Bush der knappe Sieg in irgend einer Form geschadet? Wurde er deshalb nicht wiedergewählt? Konnte er nicht in seiner gesamten Amtszeit beliebig viel Unfug anstellen?
    Nach der Wahl ist vor der Wahl.

  41. #41 Jürgen Schönstein
    27. Juni 2010

    @Ulrich Berger
    Abgesehen davon, dass Du auf mein Argument, dass die Wahlteilnahme mehrere Nutzen nebeneinander befriedigen kann, einige davon unabhängig von der Wahlbeteiligung, überhaupt nicht eingehst (ich weiß, das zählst Du in die Kategorie “blöd” – aber das allein ist kein akzeptables Argument): Erklär doch bitte mal, warum der Zusatznutzen des Nicht-Wählens Null ist (also nicht positiv); “Zusatz-” bezieht sich ja dann auf den Status quo des Wählens – Umkehrschluss bleibt Umkehrschluss, und wenn A stets negativ ist (also auch nicht gleich Null sein kann), dann muss B immer positiv sein (und wird ebenfalls nicht gleich Null). Dem wirst Du jetzt widersprechen und wiederholen, was Du vorher gesagt hast, und ich werde dem widersprechen etc. etc. Kern des Problems ist doch, was ich bereits mehrfach gesagt habe: Das Wahlparadox ist ein Modell, das auf bestimmten Annahmen (i.d.F. Annahmen darüber, welchen Nutzen die Wahlteilnahme für den einzelnen Wähler hat) beruht. Wenn dieses Modell zu einem paradoxen Resultat führt, das die Realität nicht plausibel abbildet – ist es dann ein taugliches Modell? Oder liegt es daran, dass die zu Grunde gelegte Annahme falsch ist? Auf eine ANtwort darauf warte ich noch.

  42. #42 Jürgen Schönstein
    27. Juni 2010

    @Ulrich Berger

    Übrigens ist der Zusatznutzen des Nichtwählens auch nicht “immer positiv”, wie du hartnäckig behauptest, sondern null. “Zusatz-” bezieht sich nämlich auf die status quo Position des Nichtwählens.

    Wie bitte? Das hätte ich beinahe übersehen – das heißt ja, dass Wahlteilnahme und Nicht-Wahlteilnahme den glechen Nettonutzen haben müssen, da das Differential gleich Null ist. Das widerspricht schon mal klar Deiner Einschätzung, dass Du als “rationaler” Wähler nicht zur Wahl gehen solltest. Du wirst, Deiner eigenen Begründung zu Folge, auch durchs Nichtwählen nicht rationaler (Zusatznutzen = 0). Oder ist hier eine ganz spezielle Bedeutung von “Null” gemeint, die ich natürlich nicht kapieren kann. Wenn aber sowohl Wählen als auch beim Nicht-Wählen mit meinen Annahmen – siehe oben – nicht rational erklärt werden können, dann heißt das ja entweder, dass die Annahmen falsch sind, was Du kategorisch ausschließt, obwohl es Dir vorgerechnet wurde, dass dies möglich ist. Oder “rational-irrational” sind die falschen Messgrößen, ewa so, als ob ich Temperaturen in Kilometern erfassen wollte. Das heißt aber immer noch nur: “Ich kann die Entscheidung zur Wahlteilnahme nicht rational erklären”; die Umformulierung “Also ist die Entscheidung zur Wahlteilnahme irrational” ist nach ganz simplen, logsch-formaen Regeln nicht zulässig.

    Und nun zu den anderen Fässern, die Du hier aufgemacht hast:

    Sind Argumente Menschen? Ist es wirklich ein ad hominem, wenn ich ein Argument als “blöd” bezeichne?

    Natürlich nicht. Genau so wenig wie es dann ein ad hominem wäre, wenn ich sage, dass jemand blöd daherredet, dennich nenne ja nicht ihn blöd, sondern das, was er sagt. Und wie kann ich etwas, das er sagt, beleidigen. Also wenn ich jetzt sage “Deine Antwort ist ein feiger Rückzieher”, dann habe ich nicht Dich feige genannt, sondern Deine Antwort. Und die kann ich ja nicht beleidigen.

    beschwer dich bitte nicht bei mir, sondern bei Anthony Downs (1957) und jenen tausenden Menschen, die das Phänomen seit 53 Jahren so nennen!

    Na klar, wie konnte ich es vergessen: Weil Anthony Downs das vor 53 Jahren gesagt hat, muss es ja stimmen. Natürlich. Ist ja immer so: Wenn ein Wissenschaftler mal was gesagt hat, und Tausende andere es nachgebetet haben, dann muss es natürlich richtig sein. Mein Fehler, natürlich! [/sarkasmus]

  43. #43 Sven Türpe
    27. Juni 2010

    Wenn ein Wissenschaftler mal was gesagt hat, und Tausende andere es nachgebetet haben, dann muss es natürlich richtig sein.

    Willkommen bei den Sciencebloggern.

  44. #44 Helmut E.
    27. Juni 2010

    @Türpe
    Bitte woanders weitertrollen. Das Internet ist groß genug, da findest du bestimmt Gleichgesinnte.

    Abgesehen davon, dass Du auf mein Argument, dass die Wahlteilnahme mehrere Nutzen nebeneinander befriedigen kann, einige davon unabhängig von der Wahlbeteiligung, überhaupt nicht eingehst

    Welche Nutzen meinen Sie, die nicht bereits diskutiert wurden?

  45. #45 beka
    27. Juni 2010

    Der eigentliche Sinn und die Stärke einer demokratischen Wahl liegt darin begründet, dass der Einfluss des einzelnen Wählers minimiert und durch die Interessen einer Gemeinschaft ersetzt werden soll. Es soll niemand eine solche Dominanz erlangen können, dass er plötzlich übermütig wird und anderen sein ganz privates Weltbild aufdrückt.

    Der Einzelne gewinnt nur dann, wenn es ihm gelingt, Mehrheiten zu gewinnen.

    Wer zur Wahl geht und / oder sich zur Wahl stellt ist also gezwungen, Allianzen zu schließen und Gleichgesinnte zu suchen, um seine Interessen durchzusetzen. Dies gelingt nur um den Preis, dass alle Kompromisse schließen müssen. Diese Kröte muss man eben schlucken.

    Das Argument, wählen sei irrational, weil die eigene Stimme in der Masse untergeht, ist unsinnig, weil genau das (die Dominanz des Einzelnen) durch den Wahlmodus unterbunden werden soll. Ich gehe davon aus, dass die meisten Wahlberechtigten verstanden haben, dass das Wahlrecht dann erhalten bleibt, wenn es von einer Mehrheit auch genutzt wird.

  46. #46 Ulrich Berger
    27. Juni 2010

    @ pseudonym:
    Danke für die ausführliche Analyse. Ich stimme fast uneingeschränkt zu, habe aber gewisse Vorbehalte gegenüber der “Wahlnorm”, siehe meine Bemerkungen dazu im Parallelthread.

    @ Jürgen:
    Was du zu wissen glaubst, trifft nicht zu. Auf dieses Argument mit den “mehreren Nutzen” bin ich auch sehr wohl eingegangen: Der erste davon war in deiner Auflistung die magische Verwandlung eines hauchdünnen Siegs in einen “klaren Sieg” durch eine einzige Stimme. Das habe ich deutlich kommentiert. Der zweite war “möglichst viele Sitze (im Parlament)” und der dritte war “genug Stimmen … die seine politische Existenz sichern”. Wie Helmut E. oben ebenfalls erklärt hat, ist das dasselbe in grün.

    Umkehrschluss bleibt Umkehrschluss, und wenn A stets negativ ist … dann muss B immer positiv sein

    Du wirst vielleicht schon bemerkt haben, dass hier außer mir auch sonst niemand deinen “Umkehrschluss” nachvollziehen kann. Ich kann deiner Behauptung auch nicht widersprechen, denn du hast es nicht der Mühe wert gefunden zu definieren, was du mit “A” und mit “B” überhaupt meinst.

    Warum du so verbissen auf dem Vorzeichen irgendwelcher Nutzenwerte herumreitest, ist mir ohnehin schleierhaft. Die absolute Höhe der Nutzenwerte ist völlig irrelevant, weil der Nullpunkt der Nutzenskala sowieso frei gewählt werden kann. Freilich kannst du “Wählen gehen” als deinen status quo festlegen. Dann ist dein Zusatznutzen für “Wählen” null und für “Nichtwählen” positiv. SO WHAT?!? Entscheidend ist stets nur das Vorzeichen der Differenz – also welcher Nutzen ist größer – nicht das Vorzeichen der Nutzen selbst! Und der Nutzen von “Nichtwählen” ist in meinem Modell nun mal um C-P*B größer als der von “Wählen”.

    Oder liegt es daran, dass die zu Grunde gelegte Annahme falsch ist?

    Ich habe bereits dreimal auf diese rhetorische Frage geantwortet: Ja, korrekt, es ist eine der getroffenen Annahmen falsch, nämlich die Rationalitätsannahme.

    Offenbar glaubst du aber, die Rationalitätsannahme sei richtig, und eine der anderen Annahmen sei falsch. Wie es scheint, stört dich die Annahme, der Wähler ginge wählen, weil er seinem Kandidaten zum Sieg verhelfen wolle. Leider hast du bisher keine auch nur annähernd plausible Alternative geliefert, die deinen Postingtitel rechtfertigen würde. Darauf warten wir wohl vergeblich.

    Natürlich nicht. Genau so wenig wie es dann ein ad hominem wäre, wenn ich sage, dass jemand blöd daherredet

    Ist es auch nicht: https://de.wikipedia.org/wiki/Argumentum_ad_hominem
    Ich hatte übrigens wirklich nicht dich gemeint, aber glaub’ bitte was du willst.

    Na klar, wie konnte ich es vergessen: Weil Anthony Downs das vor 53 Jahren gesagt hat, muss es ja stimmen.

    Das ist eine sehr kindische Reaktion, findest du nicht? Wie du genau weißt, und auch jeder Leser hier anhand des von dir gebrachten Zitats nachprüfen kann, habe ich nicht behauptet, dass es deshalb STIMMT, sondern dass es deshalb so GENANNT wird, weil Anthony Downs es so getauft hat. Da es keine allgemein anerkannte Definition von “Paradoxon” gibt, ist eine Diskussion darüber, ob das Wahlparadoxon “wirklich” ein Paradoxon ist oder nicht, völlig überflüssig.

  47. #47 pseudonym
    27. Juni 2010

    @Helmut E.

    Das ist jenes Amt, welches in Deutschland nicht vom Volk sondern direkt von der Bundeskanzlerin – äh Verzeihung – vom Parlament vergeben wird. Ist das nun verwerflich?

    In Deutschland ist es übrigens die Bundesversammlung, nicht das Parlament. Ich weiß nicht, ob die Ämter vergleichbar sind. Wären die Ämter vergleichbar, wäre es vielleicht nicht besonders verwerflich. Man muss schon auf die Kosten C des Einzelnen und die Bedeutung der Wahl schauen.

    Dass “Demokratie ein wertvolles Gut” ist, bestreitet niemand. Aber es ist für die Betrachtung, ob ein einzelner Wähler rational handelt, nicht von Bedeutung. Jedes dieser “Argumente” geht in die Richtung “das Wahlparadoxon darf nicht stimmen, weil die Konsequenz daraus zu furchtbar wäre”.

    Nein! Dass das Wahlparadoxon nicht stimmt, lehrt uns die Erfahrung! Denn schließlich wählen sehr viele. Also stimmt etwas mit dem Modell von Herrn Berger nicht. Es beschreibt große Teile der Wirklichkeit nicht.

    Für ihn persönlich mag das Modell zutreffen. Für sehr viele andere Wähler, die vielleicht eine Wahlnorm “ich sollte wählen gehen” verinnerlicht haben (so wie ich) nicht. Ich wähle, und das ist für mich auch Nutzen-maximierend und individuell rational, weil Nicht-Wählen für mich mit Kosten K (schlechtes Gefühl, Rechtfertigungsdruck, Trittbrettfahrerverhalten) verbunden ist. Und das ist auch gut so, weil wir eben so das öffentliche Gut “Information über gewünschte Ergebnisse” bereitstellen können, siehe oben.

    Ich selbst kritisiere auch kein vermeintliches Paradoxon (wie kann man ein Paradoxon kritisieren?). Ich denke, man muss in individuellen Nutzenfunktionen und individueller Rationalität auch von Individuen verinnerlichte gesellschaftliche Normen berücksichtigen. Und dass es auch in vielen Fällen verdammt gut ist, dass es diese Normen gibt, weil wir so eben das Dilemma zwischen individueller und kollektiver Rationalität überwinden und so gesellschaftliche Vorteile erzielen. (Im konkreten Fall der Wahl des österreichischen Präsidenten mag das dahingestellt bleiben.)

  48. #48 pseudonym
    27. Juni 2010

    @Ulrich Berger

    Ich stimme fast uneingeschränkt zu, habe aber gewisse Vorbehalte gegenüber der “Wahlnorm”, siehe meine Bemerkungen dazu im Parallelthread.

    Danke für den Hinweis, werde mir den Thread noch mal ansehen. (Es war schon spät, bestimmt habe ich etwas übersehen.)

  49. #49 Helmut E.
    27. Juni 2010

    Nein! Dass das Wahlparadoxon nicht stimmt, lehrt uns die Erfahrung! Denn schließlich wählen sehr viele. Also stimmt etwas mit dem Modell von Herrn Berger nicht. Es beschreibt große Teile der Wirklichkeit nicht.

    Für ihn persönlich mag das Modell zutreffen. Für sehr viele andere Wähler, die vielleicht eine Wahlnorm “ich sollte wählen gehen” verinnerlicht haben (so wie ich) nicht. Ich wähle, und das ist für mich auch Nutzen-maximierend und individuell rational, weil Nicht-Wählen für mich mit Kosten K (schlechtes Gefühl, Rechtfertigungsdruck, Trittbrettfahrerverhalten) verbunden ist.

    Endlich ist die Katze aus dem Sack. Danke! 🙂

    1. “Erfahrung lehrt uns” erinnert mich stark an die Argumente der Homöopathen oder Astrologen. Man kann zwar wissenschaftlich beweisen, dass eine Annahme falsch ist, aber die Erfahrung lehrt uns, dass eigentlich die Wissenschaft falsch sein muss. Denn dass viele Menschen sich täuschen und deshalb irrational handeln, das sollten wir gar nicht ernsthaft in Betracht ziehen.
    2. “individuell rational” bedeutet nichts anderes als irrational.
    Jemand der beispielsweise Granderwasser konsumiert, obwohl eindeutig belegt ist, dass es sich von normalem Wasser nicht unterscheidet, ist objektiv irrational. Aber vielleicht gewinnt er durch seine Einbildung, dass dieses Wasser ihn schöner, gesünder und klüger macht, so viel positive Energie, dass es aus seiner Sicht rational ist.
    Das gilt dann für jeden Aberglauben: Ich habe ein schlechtes Gefühl, wenn ich am Freitag den 13ten das Haus verlasse, also ist es für mich rational, daheim zu bleiben. Na genau…

    Warum ist es für einige hier so schwer einzusehen, dass etwas irrational sein kann und man es trotzdem tut? Ich gehe auch wählen, obwohl ich mich grundsätzlich als rational einstufe. Aber in diesem Punkt wurde ich vom Elternhaus irrational konditioniert. So what?

  50. #50 Sven Türpe
    28. Juni 2010

    Warum ist es für einige hier so schwer einzusehen, dass etwas irrational sein kann und man es trotzdem tut?

    Weil der verwendete Rationalitätsbegriff ein künstlicher und deshalb zweifelhafter ist. Rationalität im Sinne der Ökonomie ist ein willkürlich festgelegtes Konstrukt; hinzu kommt die ebenso willkürliche Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung relevanter Faktoren, insbesondere jener, die sich nicht automatisch in Geld ausdrücken. Der so gebildete ökonomische Rationalitätsbegriff wird also zwangsläufig immer wieder mit der landläufigen Vorstellund von Rationalität kollidieren. Das kann man achselzuckend hinnehmen, oder man kann sich damit wichtig machen.

    Um es an einem Beispiel zu illustrieren: Feuerwerk ist schön. Ein Feuerwerk abzubrennen, um sich daran zu erfreuen, ist also zweifellos rational. Dass es in unseren Breiten kaum eine andere legale und sozialadäquate Möglichkeit dazu gibt als das Silvesterfest, ändert daran nichts. Ein Feuerwerk ist immer noch schön und eines abzubrennen bleibt rational. Nun tritt ein Nerd auf, präsentiert seinen klar definierten, aber nur beschränkt realitätsbezogenen alternativen Rationalitätsbegriff, und zettelt eine Diskussion darüber an, ob es nicht rational sei, dem Feuerwerk des Nachbarn zuzuschauen, statt selbst mitzuzündeln. Warum wohl fällt es da einigen schwer, diesen Nerd so wichtig zu nehmen, wie er es gerne hätte? Zumal unser Nerd doch lediglich einmal die Grenzen seiner Begriffs- und Modellbildung betrachten müsste, um das Missverständnis zu klären.

  51. #51 Jürgen Schönstein
    28. Juni 2010

    @Alle
    Wenn ich mit Annahme A die Beobachtung Y nicht rational erklärt werden kann – und das ist doch das Problem, das in dem Wahlparadoxon zum Ausdruck kommt, denn Annahme A, dass meine Stimme nutzlos ist, da sie die Wahl nicht entscheiden kann, erlaubt keine rationale Erklärung, warum die Leute dann zur Wahl gehen. Die “Wahlparadoxer” folgern daraus, dass Y nicht rational erklärbar ist und gehen dann – zumindest in Ulrichs ursprünglichem Posting war das so – davon aus, das a) wählen gehen irrational ist und ) nicht wählen gehen rational ist.

    Aber was ist, wenn Annahme A falsch oder zumindest nicht ausreichend ist? Wie wurde nochmal der Nutzen ür das Wahlparadoxon definiert: Er wird nur erreicht, wenn meine Stimme die Wahl umkehrt. Wie ich schon mal gefragt habe: Stimmt das? Wer sagt: “Ich gehe nur wählen, wenn ich weiß, dass meine Stimme die Wahl entscheidet!”

    Das ist nämlich der Taschenspielertrick: Die Aussage darüber, welchen Nutzen der Wähler für sich erwartet, ist mit obigem Argument, das in Ulrichs Modell mit P*B ausgedrückt wird, entweder falsch oder zumindest nicht vollständig beschrieben. Denn erst mal will der Wähler nur eines: Seinem Kandidaten seine Stimme geben. Mehr kann und mehr darf er im Wahllokal gar nicht tun. Er darf abstimmen. Dass er dies in der Hoffnung tut, damit seinem Kandidaten zur Wahl zu verhelfen, ist eine sekundäre Annahme – er könnte sein Kreuz auch machen, um seinem Kandidaten Wahlkampfkostenerstattung zukommen zu lassen (wie ich schon beschrieben habe), oder wiel er gerne Kreuze auf bunte Zettel malt, oder was auch immer. Sicher ist nur eines: Der Zweck, zum Wahllokal zu gehen, besteht dahin, dort seine Stimme abzugeben. Dies trifft genau dann, und nur dann ein, wenn er wählen geht. Dieser Nutzen ist ihm gewiss, und die Kosten (wie groß oder klein sie auch immer sein mögen) sid ihm bekannt – wenn er wählen geht, waren sie offenbar geringer als der Nuzten, den er damit erwerben konnte. Alles weitere ist Budenzauber, das Kaninchen im Hut. Die Entscheidung, wählen zu gehen, lässt sich rational beschreiben. Die Entscheidung, für wener/sie stimmt, ist eine ganz andere, die fällt separat.

  52. #52 Niara
    28. Juni 2010

    *gähn*
    (im Folgenden soll “individuell irrational” sich auf die einfache Kosten-Nutzen-Rechnung beziehen und bezeichnen, das eben C > B*P gelten würde)
    Es erscheint mir so, schon wieder recht spät eben, das viele aus der individuellen Irrationalität des Wählens schließen, das dann ja viele Leute nicht zur Wahl gehen müssten.. Weil aber viele Leute wählen gehen, muss das Modell falsch sein.

    Jetzt fließen in die Entscheidung wählen zu gehen, aber sehr viele andere Dinge ein, oftmals ist die individuelle Rationalität wählen zu gehen, überhaupt nicht Teil dieser Überlegung. Die Nichtwähler die ich so kenne, leiden eher an Politikverdrossenheit.
    Menschen sind keine reinen idividualisten, das Modell ist hier zudem grob vereinfachend. So tendieren eventuell bestimmte Wählergruppen (nennen wir diese A) dazu überhaupt so eine rationalitätsüberlegung anzustellen, diese Wählergruppe A hat aber womöglich ein ganz anderes Wahlprofil als der allgemeine Durchschnitt (so hat die Gesamtheit eventuell SPD ~33%, CDU ~30%, FDP ~8%, die Gruppe A aber SPD ~15%, CDU ~11%, FDP ~20% etc.)
    Dadurch ergibt sich, für die Gruppe, bei der die individuelle rationalität eine Rolle spielt, eine Verzerrung der Wahlentscheidung, da es sich hierbei nicht mehr um Individuen handelt, für die eine Stimmabgabe vernachlässigbar wäre, sondern eine Gruppe “relevanter Größe” (sie ist so groß, so das sich das Wahlergebnis verschieben würde, würden alle wählen gehen).

    Den Fehler den einige der irrationalitäts-Gegner hier machen (womöglich auch die anderen) das sie den Anspruch an das Modell haben, das es zwingend richtig ist, oder das es der einzige Einflussgeber sei.
    Menschen, auch Wissenschaftler, sind nicht dafür bekannt nur individuelle, rationale Entscheidungen zu treffen. Manchmal opfern wir uns für eine Gruppe, helfen Freunden gar ohne Erwartung einer Gegenleistung. Einfache Kosten-Nutzen-Rechnungen auf Individueller Basis halten dem nicht stand, da wir auch eine Gesellschaft sind.

    ps: Freie demokratische Wahlen sollten sich auch selbst erhalten, solang sich keine Mehrheit der Wähler dafür entscheidet gegen selbiges zu wählen (indem sie eine Partei wählt, die selbiges fordert), somit muss nicht-wählen keine Gefahr für das System sein.
    Zudem spielen dabei wie gesagt ganz andere Dinge in diesem Modell eine Rolle und es beschäftigt sich eben nur mit der Individuellen Sichtweise und beschränkt sich selbst auf eben diese Kosten-Nutzen Rechnung.
    Ich kann die Ethischen, Moralischen, sonstigen Einwände durchaus verstehen, ich teile sie sogar, sie haben nur nichts mit dem Modell zu tun. Es erhebt nicht den Anspruch die Entscheidung zu (Nicht-)Wählen vollständig zu beschreiben, sondern nur einen möglichen Teil davon. Vor allem weil gerade in dem Kontrast zwischen Modell und Wirklichkeit das Paradoxon liegt, das es beschreibt…
    (Anders formuliert:
    1. Wenn man es rein auf Kosten-Nutzen eines Einzelnen reduziert, sollte der einzelne nicht wählen gehen.
    2. Der Einzelne geht meistens Wählen (bei Bundestagswahlen zumindest)
    Daraus schließen wir? Genau: Der Einzelne entscheidet vermutlich nicht individuell rational ob er wählen geht oder nicht, sondern hat entweder ganz andere, oder zusätzlich andere Gründe. (Es mag solche Personen geben, die rein nach dem Opportunistenschema agieren)

  53. #53 Logiker
    28. Juni 2010

    An alle, die glaube, die teilnahme an einer Wahl sei irrational, weil die einzelne Stimme ja keinen Einfluss auf das Wahlergebnis haben kann: Ihr seid durch die Realität widerlegt.

    Nach der Landtagswahl in Schleswig-Holstein im vergangenen Jahr – zeitgleich mit der Bundestagswahl – hatte die CDU/FDP-Regierung 49 Sitze, die Opposition 46. Da es in einem Wahlkreis zu Unregelmäßigkeiten gekommen war (Die Zweitstimmen für die Linke auf Landesebene wichen sowohl stark von den Zweitstimmen Bund als auch von den jeweiligen erststimmen ab), wurde dort erneut ausgezählt.

    Schon sechs (sechs!) weitere Stimmen für die Linke hätten hierbei ausgereicht, um das Sitzverhältnis auf 48 zu 47 zu ändern. Dies ist dann auch so eingetreten. Sollte das Schles-holsteinische Verfassungsgericht heute den Klagen der Opposition stattgeben, ändert sich das Ergebnis erneut, dann auf 50 zu 51.

    Sprich: dann haben sechs klitzekleine Stimmchen ausgereicht, um die Mehrheitsverhältnisse umzudrehen.

    PS: Wer behauptet, selbst beim Mehrheitswahlrecht käme es auf die einzelne Stimme nicht an, weil die zusätzliche Stimme ja nur ein Patt hervorrufen könne, aber zu keiner Umdrehung, der überlege mal, was passiert, wenn nicht zwei, soondern drei Kandidaten zu wahl stehen….

  54. #54 pseudonym
    28. Juni 2010

    Bei Tageslicht betrachtet ist in dem Parallelthread tatsächlich fast alles gesagt. Der Knackpunkt liegt in der engen Definition und provokanten Verwendung des Rationalitätsbegriffs durch Herrn Berger. Im Rahmen einer engen Definition stimme ich Herrn Berger zu, im Hinblick auf die in Umfragen geäußerten Ziele “Ich gehe wählen, damit A gewinnt” und unter der Annahme, dies wären – bewusst und unbewusst- die einzigen Ziele, wäre Wählen in diesem eng definierten ökonomischen Sinn irrational. Der Rationalitätsbegriff ist aber – abgesehen davon, dass gewisse Präferenzaxiome erfüllt sein müssen – in der Ökonomie doch gar nicht so klar definiert.

    Man kann auch ein erweitertes ökonomisches Modell bzw. weniger engen Rationalitätsbegriff verwenden. Dies ist in der Ökonomie nach meiner Einschätzung durchaus üblich und auch fruchtbar. So macht Dowding im Hinblick auf Wahlen in “Is it Rational to Vote?
    Five Types of Answer and a Suggestion”
    ein paar Vorschläge zur Auflösung des Paradoxons.

    Zum Beispiel sind die kognitiven Fähigkeiten und Informationsverarbeitungsmöglichkeiten von Individuen beschränkt. Wenn jemand nur mit dem Ziel, Kandidat A zu stützen, wählen geht, und erwartet, seine Stimme habe einen nennenswerten Einfluss, obwohl dies tatsächlich nicht zu erwarten ist (also im Modell: er denkt, P*B > C, obwohl objektiv zu erwarten ist P*B < C), dann handelt er (subjektiv) rational. Das wäre bei Dowding Antwort 4, also die "p-Term solution". Aus den Kommentaren habe ich den Eindruck, dies ist tatsächlich eine Teilerklärung. Es ist m.E. aber auch üblich, subjektiv empfundene Kosten, die aus sozialen Normen herrühren, in die Nutzenfunktion von Individuen zu integrieren. Diese so modifizierten Nutzenfunktionen können immer noch den Präferenzaxiomen gehorchen. Speziell bei Wahlen wäre das die Wahlnorm. Bei Dowding wäre das Antwort 5 ("D-Term solution"), in dem von mir weiter oben vorgeschlagenen erweiterten Modell wäre das der K-Term. Ich halte die "D-" bzw. "K-Term Erklärung" für am plausibelsten und, in der von mir verwendeten erweiterten Nutzenfunktion, damit Wählen auch ökonomisch gesehen für rational. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es eine Wahlnorm gibt: als jemand, der einmal Wahlhelfer in einem kleinen Dorf war, weiß ich, wie genau dort registriert wird, wer ins Wahllokal geht oder nicht; ich persönlich empfinde bei geringen eigenen Kosten C und ausreichend hoher sozialer Bedeutung der Wahl aus gesellschaftlichem Verantwortungsbewusstsein auch eine gewisse Wahlpflicht und denke, andere sollten bei geringem C ebenso handeln. Es gibt meines Wissens auch empirische Untersuchungen, die abnehmende Wahlbeteiligungen mit einer abnehmenden Bedeutung der Wahlnorm erklären. Letztlich geht es also eigentlich nur darum, wie man wozu die Nutzenfunktion definiert, was man dort mit einbezieht. In einem erweiterten Sinn ist kann Wählen m.E. absolut rational sein.

  55. #55 pseudonym
    28. Juni 2010

    Da hat der Parser in meinem letzten Kommentar im dritten Absatz die Kleiner-/Größer Zeichen als HTML-Tag interpretiert. Hier der vollständige Absatz:

    … er denkt, P*B > C, obwohl objektiv zu erwarten ist P*B < C), dann handelt er (subjektiv) rational. Das wäre bei Dowding Antwort 4, also die “p-Term solution”. Aus den Kommentaren habe ich den Eindruck, dies ist tatsächlich eine Teilerklärung.

  56. #56 Helmut E.
    28. Juni 2010

    @Sven Türpe
    Ich stimme zu, der Knackpunkt ist die Definiton von Rationalität. Begriffsdefinitionen sind nun einmal willkürlich, aber macht aber nichts, so lange alle die gleiche Definition verwenden. Sonst wird man (so wie hier) aneinander vorbei reden.
    Wer den Standpunkt vertritt, dass “Rationalität im landläufigen Sprachgebrauch” anders verstanden wird und einen alternativen Rationalitätsbegriff verwendet, für den ergibt das Wahlparadoxon natürlich keinen Sinn.
    Leider trifft das auch auf beliebig viele andere Bereiche unserer Gesellschaft zu. Alles, aber auch wirklich alles wird rational erklärbar wenn man sich den Begriff der Rationalität zurecht biegt: Rauchen, Wahrsagerei, Glücksspiel, das Aufnehmen von Krediten ohne Chance auf Rückzahlung, etc etc etc.

    Man kann schliesslich immer das Argument aus ihrem Feuerwerkbeispiel verwenden: “Mein Handeln hat mich erfreut/glücklich gemacht, also war es aus meiner Sicht rational.” Auf der ganzen Welt kann es dann per Definition nur noch rationale Menschen geben, die in jeder Lebenslage immer rational handeln.

    Das sind die Methoden der Esoterik. Esoterik kommt ohne Begriffsdefinitionen aus, Wissenschaft zum Glück nicht.

    PS: ich bin wohl ein Nerd (zum Glück nur nach ihrer Definition), denn ich finde Feuerwerk absolut dämlich.

  57. #57 Ulrich Berger
    28. Juni 2010

    @ pseudonym:

    Danke für den Hinweis auf das Dowding-paper, kannte ich noch nicht! Ich denke auch, dass die “wahre” Erklärung der D-Term ist, halte es aus den von Helmut E. oben genannten Gründen aber nicht für besonders zielführend, die Entscheidung deshalb als “rational” zu bezeichnen. Z.B. würde das u.a. bedingen, dass man die weibliche Genitalverstümmelung in manchen afrikanischen Ländern (wo sie immer noch eine soziale Norm ist) als rational bezeichnen müsste. Ich halte es für sinnvoller, es als Norm-induzierte Abweichung vom Rationalverhalten zu behandeln.

  58. #58 pseudonym
    28. Juni 2010

    @Helmut E:
    Ich bin mit Ihnen ja insofern einer Meinung, dass das Verständnis des Rationalitätsbegriff ein Problem ist. Der ugs. Begriff und die (keineswegs einheitliche) ökonomische Verwendung sind aber zwei paar Schuhe.

    Schauen Sie doch zum Beispiel mal in folgenden Artikel von G.S. Becker “Nobel Lecture: The Economic Way of Looking at Behavior”.

    Along with others, I have tried to pry economists
    away from narrow assumptions about self-interest. Behavior is driven
    by a much richer set of values and preferences. The analysis assumes that individuals maximize welfare as they conceive it, whether they be selfish, altruistic, loyal, spiteful, or masochistic.

    Oder schauen Sie mal in das Thema Bounded Rationality.

  59. #59 Sven Türpe
    28. Juni 2010

    Das sind die Methoden der Esoterik. Esoterik kommt ohne Begriffsdefinitionen aus, Wissenschaft zum Glück nicht.

    Dafür kommt die Wissenschaft gerne mal ohne praktische Folgen ihrer Gedankengänge aus. Genauer gesagt, ohne Folgen außerhalb der Wissenschaft. Das könnte man vielleicht auch hin und wieder betonen, um unnötige Ängste der Mitmenschen abzubauen. Die Aussage, ein Handeln sei nicht rational im Sinne der üblichen ökonomischen Begriffe, verlangt ja keine Verhaltensänderung von den Handelnden, sondern eine Begriffs- und Modellanpassung vom Wissenschaftler. Wenn ein zentraler Begriff der Wissenschaft nun gerade mit der Bezeichnung Rationalität versehen ist, erklärt sich diese Tatsache nicht unbedingt von selbst.

    P.S.: Eine Bottleparty, eine Demonstration oder eine Blogkommentardebatte dürften als Beispiele ähnlich geeignet sein.

  60. #60 pseudonym
    28. Juni 2010

    @U.Berger:

    Jetzt war ich eben gerade bei Becker und sie erwähnen die (aus meiner Sicht meist kriminelle) weibliche Genitalverstümmelung!

    Becker erklärt in dem von mir eben verlinkten Artikel ja auch gerade Verbrechen mit “Rationalverhalten” (in einem erweiterten ökonomischen Sinn):

    I was not sympathetic to the assumption that criminals had radically
    different motivations from everyone else. I explored instead the theoretical
    and empirical implications of the assumption that criminal
    behavior is rational […], but again “rationality” did not imply
    narrow materialism.

    Wenn die “Wahlnorm” in das Nutzenkalkül miteinbezieht, kann man im Modellrahmen die Auswirkungen von Änderungen der Gültigkeit der Wahlnorm untersuchen. Man könnte zum Beispiel die Folgen einer Verstädterung (mehr Anonymität, der von mir erwähnte dörfliche Druck fällt weg) im Modellrahmen untersuchen.

    Inwiefern (oder unter welchen Umständen) halten Sie es für sinnvoller, Wählen als norm-induzierte Abweichung vom Rationalverhalten zu betrachten?

  61. #61 pseudonym
    28. Juni 2010

    @Helmut E.:

    Man kann schliesslich immer das Argument aus ihrem Feuerwerkbeispiel verwenden: “Mein Handeln hat mich erfreut/glücklich gemacht, also war es aus meiner Sicht rational.” Auf der ganzen Welt kann es dann per Definition nur noch rationale Menschen geben, die in jeder Lebenslage immer rational handeln.

    Stellen Sie sich vor, jemand schluckt Globuli, nachdem er sich – so gut er konnte – informiert hat und nach einem reiflichen Abwägungsprozess zu der Überzeugung gekommen ist, dass sie ihm helfen Aus meiner Sicht kann man das, auch ugs., als rationale Entscheidung bezeichnen.

    Stellen Sie sich vor, jemand schluckt Globuli (obwohl er nicht wirklich krank ist), weil es sein anthroposophisches Umfeld erwartet. Nach reiflicher Überlegung kommt er zu dem Entschluss, dass es für ihn besser ist, der Norm zu folgen und die geringen Nachteile in Kauf zu nehmen, auch wenn er nicht an Homöopathie glaubt. M.E. eine vollkommen rationale Entscheidung. (Er sollte sich aber vielleicht überlegen, ob er darauf hinwirkt, dass die sozial schädliche Norm beseitigt wird, indem er z.B. GWUP unterstützt)

    Stellen Sie sich vor, jemand geht nach einem reiflichen Abwägungsprozess, in dem er auch sein Pflichtgefühl und die Erwartungen seines Umfelds miteinbezieht, wählen, weil er zu dem Schluss kommt, für ihn persönlich überwiegen die Vorteile. Handelt er irrational? Nein, absolut nicht. Und er folgt einer (meiner Überzeugung nach) sozial nützlichen Norm, anders als im Globuli-Fall.

    In allen Fällen würde ich das gegenteilige Handeln vielleicht sogar als irrational bezeichnen.

    Aus meiner Sicht ist entscheidend für rationales Handeln (auch ugs.), dass man in einem Abwägungsprozess alle bekannten Faktoren (auch Gefühle, soziale Normen etc.) miteinbezieht, und auf dieser Basis unter mehreren Handlungsalternativen die beste auswählt. Dem entspricht in etwa das erweiterte ökonomische Verständnis des Rationalitätsbegriffs, mit dem ich hier argumentiere.

    Irrational wäre in meinem Verständnis jemand, der trotz reiflicher Überlegung, dass A am besten wäre, B tut.

  62. #62 Ulrich Berger
    28. Juni 2010

    @ pseudonym:

    Inwiefern (oder unter welchen Umständen) halten Sie es für sinnvoller, Wählen als norm-induzierte Abweichung vom Rationalverhalten zu betrachten?

    Ich halte es (wie die Mehrzahl der Ökonomen) nicht für sinnvoll, Präferenzen so auszudehnen, dass fast jede Handlung rationalisiert werden kann. Das macht den Rationalitätsbegriff inhaltsleer. Stattdessen sollte man die Konsequenzen von Rationalverhalten (im eingeschränkten klassischen Sinn) studieren und parallel dazu jene Institutionen (wie etwa soziale Normen) analysieren, die insofern wertvoll sind als sie jene Gleichgewichte verhindern, in denen individuelle Rationalität zu sozial unerwünschten Resultaten führt. Elinor Ostrom (letzter WiWi-“Nobelpreis”) hat sehr schön vorgeführt wie das geht.

    Aber darüber kann man sicher diskutieren…

  63. #63 Stefan W.
    6. Juli 2010

    Mich wundert, wie man so umstandslos Rationalität mit einem unterstellten, ökonomischem Nutzen verwechseln kann und wie man auf die Idee kommen kann eine Wahl und den Wahlausgang als einen persönlichen Nutzen aufzufassen, den man in Geld bewertet.

    Wieso werden dann Mandate nicht versteigert?

    Das, was bei Wahlen zur Disposition steht, zeichnet sich gerade dadurch aus, dass es nicht käuflich ist – dann mutwillig mit dem eigenen Baukasten an ökonomischen Kalkualationen anzurücken ist in meinen Augen geistlose Geisteswissenschaft – schon das Problem nicht verstanden.

    Wenn dann ein Protagonist der Grundrechenarten noch behauptet, daß ein Stimmenwechsel nie zu einem gegenteiligen Ergebnis führen kann, sondern immer zu einem Patt führt, dann kann man sich ja nur noch an den Kopf fassen. Inzwischen korrigiert, weil es könne 3 Kandidaten geben!

    Applaus!

    Es kann einfach eine ungerade Zahl gültiger Stimmen geben. Bitte geben Sie Ihr Abitur ab, und die mittlere Reife.

    Und all die, die es nicht gemerkt haben, stellen sich bitte gleich mit in die Schlange, es kostet auch nicht viel, nur etwas Überwindung. Und bitte nicht mehr zu Wahlen gehen.

    Danke.

  64. #64 BAReFOOt
    15. Juli 2010

    Die ganze Diskussion ist doch eine falsche Dichotomie.
    *Weder* wählen gehen noch nicht wählen gehen ist rational die beste Wahl. Da es völlig irrelevant ist.
    Der Grund ist sehr fundamental in der Psychologie des Menschen verankert: Der Fakt dass Menschen die führen, und Menschen die für andere arbeiten, Gegensätze sind.
    Sogar per Definition.
    Menschen die führen, wollen die *eigenen* Interessen durchbringen. Das ist es, was führen heisst.
    Also ist so ein Konzept wie „Volks*vertreter*“ schonmal grundsätzlich völlig absurd.

    Und daher kann jede Regierungsform, die Menschen als Interessensvertreter hat, per Definition nicht funktionieren.

    Leider sind die meisten Menschen auf eine happy-happy-Welt konditioniert. Sie glauben tatsächlich an Aufopferung und dergleichen, und können die Realität der Natur niemals akzeptieren, dass Leben immer ausschliesslich (direkt oder indirekt) im eigenen Interesse handelt. Und das durch den ganzen Prozess der Evolution und die Definition davon was es bedeutet, dass etwas lebt, zwingend so ist.
    Denn dann müssten sie akzeptieren, dass der einzige Grund warum sie an so Dinge wie „sich für andere opfern“ und dergleichen glauben, ist, dass die an der Macht ihnen das erzählt haben, damit sie deren Interessen verfolgen, und es als unschicklich ansehen, auch eigene Interessen zu haben.
    So wird verhindert, oder zumindest verlangsamt, dass die die oben sind ihre Macht an aufstrebende Neulinge abgeben müssen.

    Wer also seine Interessen durchsetzen will, *muss* das schon selber machen. Und/oder halt anderen erzählen, wie toll es sei, sich für einen aufzuopfern.

    Einzige mir bekannte Alternative ist, Software zu verwenden, die blind den Regeln der eigenen Interessen folgt. Also quasi ein „peer-to-peer“-Netz aus Intressenvertretungs-Programminstanzen, die miteinander die Interessen ihrer Besitzer in Sekundenbruchteilen abstimmen, und so die Kompatibilitäten von Menschen und Gruppen durch die urtümlichen und gesunden direkten Vertrauensstrukturen, die schon die Urmenschen erfolgreich nutzten, zu bestimmen und zu maximieren.

    Schöner Nebeneffekt: Es bedarf dann nur noch einer einzigen Form von „Strafe“: Der Beendigung von Interaktion in den konfliktbehafteten Themenbereichen. Was für Gruppen von der Größe eines Staates der Ausweisung gleichkommt. (Oder, wenn es eine große Teilgruppe ist, die Teilung des Landes.)
    Die Frage nach einem absoluten Richtig und Falsch (die sowieso höchst absurd ist) fällt dann gleich auch endlich mit weg, und wird sinnlos.