Wissenschaftlich gesehen mag man ja in Al Gores “Inconvenient Truth” (Eine unbequeme Wahrheit) etliche Suppenhaare finden – aber die Frage bleibt doch erst mal: Hat er die Öffentlichkeit zu Recht alarmiert?

Der Heidelberger Springer-Verlag bringt in seiner neuen Ausgabe des “GeoJournal” einen Artikel über die wissenschaftliche Bewertung des Oscar-gekrönten Filmes. Und wenn ich die Kritik darin durchlese, dann fühle ich mich wieder an viele Gründe erinnert, warum ich mich vor fast einem Vierteljahrhundert gegen eine akademische Laufbahn entschieden hatte und lieber Journalist wurde.

Das mag in diesem Forum nun provozierend klingen, aber es gibt akademische Tatsachen und generelle Wahrheiten. Und an den Wahrheiten ändert sich manchmal auch nichts, wenn sich die Wissenschaft noch um Details streitet. Die Entstehung der Arten durch natürliche Selektion, kurz Evolution, ist eine dieser Wahrheiten, die sich nicht dadurch ändert, dass sich Wissenschaftler darüber streiten, ob diese Evolution über die Zeiträume hin eher gleichförmig wirkt oder in Schüben, die unter anderem von Katastrophen wie dem Meteoritenschlag am Ende der Kreidezeit beschleunigt werden können. Dass der Apfel vom Stamm nach unten fällt, bleibt auch davon unberührt, dass wir vielleichtn nicht wirklich wissen, ob Gravitation nun eine Krümmung des Raumes oder eine Kraft oder eine Welle oder sonst etwas ist.

Wenn Wissenschaftler also Fehler in Al Gores Präsentation finden, die zwar in Details nicht unbedeutend sein mögen, aber dennoch nichts am Kern der Aussage ändern, dann mag der Film zwar den akademischen Ansprüchen nicht genügen – aber es macht ihn gewiss nicht “falsch” im populären Sinn.

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Kommentare (4)

  1. #1 ali
    15. April 2008

    Dieser Eintrag redet doch eher einen Widerspruch zwischen Akademia und der Allgemeinheit herbei ohne im konkreten Fall einen solchen zu belegen.

    Die meisten Autoren im verlinkten Artikel sprechen dem Film die grundsätzliche wissenschaftlichkeit zu (und nicht umgekehrt). Auch die Schlussfolgerungen sind dass “it represents mainstream scientific views on global warming.”. Wo liegt das Problem?

    Genau solche Verzerrungen konstruieren doch erst die Wahrnehmung eines vermeintlichen Elfenbeinturms. Die Sache mit “generellen Wahrheiten” ist häufig, dass es um Bauchgefühle geht und das reicht nunmal nicht in der Wissenschaft.

    Ich hoffe der Entscheid gegen eine akademische Laufbahn war nicht eine simple Präferenz für die (simpleren) ‘generellen Wahrheiten’ gegenüber den rigoroseren wissenschaftlichen. Letzteres mag einfacher zu verstehen sein, Fortschritt baut aber auf ersterem auf.

  2. #2 Jürgen Schönstein
    15. April 2008

    Akademischer Fortschritt beruht im Wesentlichen auf Dissenz: Hypothesen werden dadurch bewiesen, dass man versucht, Löcher in sie zu bohren, Fehler zu entdecken und Widersprüche aufzuweisen. Das ist auch gut so, denn wenn alle Forscher immer nur einer Meinung wären, dann würden wir sicher heute noch glauben, die Erde sei eine Scheibe, um die das Weltall kreist. Damit habe ich keine Probleme, im Gegenteil. Aber mir war halt schon im Studium (als Geograph beschäftigte ich mich mit Fragen der Raumentwicklung, der Stadt- und Landesplanung, und auch des Umweltschutzes – alles Themen, zu denen es neben der akademischen auch eine sehr rege öffentliche Diskussion gibt) aufgefallen, wie schwer es Akademikern fallen kann zu verstehen, dass diese öffentliche Diskussion nach ganz anderen Regeln geführt wird als die akademische: dass eben nicht derjenige den besten Beitrag leistet, der die härteste Kritik übt. Dass der Hinweis auf Unschlüssigkeiten und formale Fehler eines Arguments in einer öffentlichen Diskussion eben nicht als Aufforderung verstanden wird, es beim nächsten Mal besser zu machen, sondern schlicht als eine Bewertung nach “richtig” oder “falsch”.
    Anders ausgedrückt: Löcher in “An Inconvenient Truth” zu bohren, mag akademisch ja reizvoll sein – aber der Film ist keine wissenschaftliche Dissertation, sondern Teil einer öffentlichen Diskussion. Und die ist nun mal plakativ, Und so kommt es, dass selbst Wissenschaftler, die es eigentlich gut meinen, ganz überrascht sind, wenn sie plötzlich als “Zeugen” für die Gegenseite bemüht werden – weil die Feinheiten des akademischen Diskurses in dieser öffentlichen Diskussion nicht gewürdigt werden. Darum ging es mir in diesem Beitrag.
    Und dieses Gefühl, dass die wissenschaftliche Welt manchmal Dolmetscher braucht, um in der Öffentlichkeit nicht völlig falsch verstanden zu werdne, war es , was mich inspiriert hatte, Journalist zu werden, anstatt an der Uni zu bleiben.

  3. #3 ali
    15. April 2008

    Danke für die Präzisierung. Ich glaube ich habe ein Teil des Posts falsch verstanden.

    Ich kann das Argument nachvollziehen, frage mich jedoch, was denn die Alternative wäre für die Wissenschaftler beim diskutierten Beispiel:

    a) Gar nichts dazu verlauten lassen und die Fehler ignorieren? Wo liegt die Toleranzschwelle für Fehler?

    b) Zu sagen, dass alles in Inconvenient Truth dem neusten Stand der Forschung entspricht?

    Haben Wissenschaftler nicht auch eine Pflicht Dinge die ihre Forschung betrifft zu kommentieren?

    Es ist ausserdem wohl schwer eine gemeinsame ‘Kommunikationsstrategie’ zu entwickeln, schon nur weil es die Wissenschaftler ja so gar nicht gibt.

  4. #4 Jürgen Schönstein
    15. April 2008

    “Wer einen Hammer besitzt, für den sieht alles wie ein Nagel aus”, sagt ein amerikanisches Sprichwort, das Mark Twain zugeschrieben wird. Für einen Wissenschaftler sieht alles wie eine wissenschaftliche Diskussion aus, würde ich in Abwandlung sagen. Was nicht heißt, dass diese Diskussion falsch oder unnütz ist, ebenso wenig wie man sagen könnte, dass Hämmer generell unnütze Werkzeuge seien. Aber manchmal sind sie halt nicht das passende Instrument.
    Wer “An Inconvenient Truth” für eine Debatte über den akademischen Stand der Klimaforschung hält, hat den Film (und Al Gores Vortragsreihe) schon vom Kern her missverstanden. Der Film war eine Antwort auf die Bemühungen der Bush-Regierung (nein, das ist kein pawlovscher Anti-Bush-Reflex, sondern war ausdrückliche Regierungspolitik), den Klimawandel an sich und die menschlichen Beiträge dazu im Besonderen als Mythos abzutun; die Ölindustrie, allen voran Exxon, hatte Millionen von Dollar zur Finanzierung von “Forschung” (zumeist Sekundäranalysen mit selektiver Betrachtung von wissenschaftlichen Daten) aufgewendet, die diese Politik unterstützen sollte. Es geht also nicht um eine möglichst umfassende Darstellung der Umwelt- und Klimaforschung, sondern um die Beantwortung der Frage: Machen wir unsere Umwelt kaputt?
    Wenn ein Patient zur Krebsvorsorge geht, will er ja auch eine möglichst klare Antwort haben und sich nicht statt dessen in einer Diskussion zwischen Fachleuten verloren fühlen, die darüber debattieren, ob Krebs stärker genetisch veranlagt oder von seinem Lebensstil verursacht ist.