In seinem Buch “Die Hoffnung der Pandora” greift der Wissenschaftsforscher Bruno Latour die Legende des Göttergeschenkes auf, jener Büchse, deren Öffnung so viele “Plagen und Flüche, Sünden und Übel” über die Menschen gebracht hat. Er und die anderen Wissenschaftsforscher, das gesteht Latour, haben die Büchse geöffnet, als sie die Wissenschaft selbst zu ihrem Gegenstand gemacht haben, als sie begannen, in Feldstudien und theoretischen Überlegungen die Mechanismen der Wissenschaft zu untersuchen um zu verstehen, was Wissenschaft ist.

Wie ist das möglich? Wer Wissenschaft zum Gegenstand seiner Studien macht, ist doch kein Feind der Wissenschaft, der mit Beginn seiner Untersuchungen einen Kampf, eine Auseinandersetzung beginnt? Erstaunlicherweise ist die Deutung der Arbeit der Wissenschaftsforscher als Kampf gegen die Wissenschaft einmalig: Keinem Politikforscher wird eine Feindschaft zu Politikern, keinem Kulturwissenschaftler ein Kampf gegen die Kultur unterstellt, niemand käme auf die Idee, einem Soziologen, der sich z.B. mit dem Verhalten von Jugendlichen befasst, eine Abneigung gegen Jugendliche zu unterstellen.

Latour beschreibt die unverständliche Ablehnung, die ihm von wissenschaftlicher Seite entgegenschlug: „Dass wir einen Gegenstand untersuchen, bedeutet nicht, dass wir ihn attackieren. Sind Biologen gegen das Leben, Astronomen gegen die Sterne, Immunologen gegen Antikörper? … Wenn Wissenschaftler, so dachte ich naiv, wirklich einen treuen Verbündeten haben, sind wir es, die Wissenschaftsforscher”.

Natürlich: Wer einen Gegenstand erforscht, erhält vielleicht (man kann sogar sagen: hoffentlich) überraschende Ergebnisse. Und gerade wenn der Gegenstand sich aus Handlungen von Menschen konstituiert ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Forschung eine neue Sicht auf eben diese Handlungen hervorbringt, dass auch diese Menschen, deren handeln da untersucht wird, mit unerwarteten Erkenntnissen konfrontiert werden.

Wissenschaftlern geht es da nicht anders als Politikern oder Künstlern. Im besten Falle greifen sie die Erkenntnisse der Wissenschaftsforscher auf, nehmen sie zum Anlass, um ihre bisherige Sicht auf das eigene Tun zu überdenken und möglicherweise Anregungen für das eigene Arbeiten zu erhalten.

Dass Wissenschaftler auf Wissenschaftsforschung anders reagieren als Künstler auf Forschungen über Kunst oder Politiker über Politikforschung könnte selbst ein Gegenstand der Wissenschaftsforschung sein. Vielleicht liegt es daran, dass die Wissenschaftsforscher ja quasi Kollegen sind und dass daraus der Eindruck entsteht, dass sich hier eine Disziplin sozusagen ein Urteil über die anderen anmaßt. Aber das hat mit einem gelassenen Verständnis von Forschung nichts zu tun: Kein Biologe urteilt über die Lebensformen, die er untersucht, und das gleiche gilt für die Kunst- und die Politikforschung.

Wissenschaftsforschern wird oft vorgeworfen, sie würden sich gar nicht der wissenschaftlichen Methoden und Standards bedienen, und das wäre das eigentliche Problem. Wenn man sich die vielen wissenschaftssoziologischen und wissenschaftshistorischen Fallstudien ansieht, die die Wissenschaftsforscher allein in den letzten 30 Jahren erstellt haben, scheint dieser Vorwurf zunächst merkwürdig. Aber er deutet auf ein wirkliches methodisches Problem hin: Wer verstehen will, wie praktisches menschliches Verhalten in Kategorien wie „wissenschaftliche Theorie”, „Experiment”, „Hypothese” eingeordnet wird, wer den Inhalt dieser Kategorien und ihre Zusammenhänge erst aufzeigen will, kann sich ja gerade dieser Kategorien und der damit zusammenhängenden Methoden nicht von Beginn an sicher sein. Dass, was dem Wissenschaftler selbstverständlich ist, ist der Forschungsgegenstand – und dieser kann nicht mit den selbstverständlichen Begriffen erfasst und beschrieben werden, die gerade untersucht werden. So können sich die Methoden der Wissenschaftsforschung quasi erst im Zuge der Forschungen bilden – sie sind nicht vorab klar. Erst wenn die Wissenschaftsforschung einen Begriff von Wissenschaftlichkeit gewonnen hat, kann sie prüfen, ob die eigene Arbeit mit dieser Kategorie erfasst werden kann. Selbstkritik der Methoden – gerade Latours Texte zeigen das immer wieder – ist deshalb fester Bestandteil der Wissenschaftsforschung.

Vielleicht ist es auch deshalb ganz selbstverständlich, dass Wissenschaftler die Studien der Wissenschaftsforscher missverstehen und als Angriff auf ihre Arbeit auffassen. Das ist schade, weil die Ergebnisse und Theorien, die da entstehen, ja wie gesagt nicht als Bewertung sondern als sachliche Beschreibung angelegt sind. Latours Nachweis, dass wissenschaftliche Fakten konstruiert werden z.B. behauptet ja nicht, dass diese Arbeit der Fakten-Konstruktion in irgendeiner Weise etwas Schlechtes ist – im Gegenteil – sie gehört zu den Grundbestandteilen erfolgreichen wissenschaftlichen Arbeitens.

Deshalb wäre es auch unsinnig darüber zu sinnieren ob es nicht besser gewesen wäre, die „Büchse der Pandora”, die die Wissenschaftsforschung geöffnet hat, verschlossen zu lassen. Diese Frage müsste sich dann jegliche Forschung gefallen lassen – jede Forschung gleicht dem Öffnen dieser Büchse. Vielmehr sollte man sich an das Ende des Mythos von Pandora erinnern: Auf dem Boden des Gefäßes ist die Hoffnung, die beim erneuten Öffnen in die Welt kommt.

Kommentare (88)

  1. #1 Thilo Kuessner
    Juni 2, 2009
  2. #2 Thilo Kuessner
    Juni 2, 2009

    und https://www.math.tohoku.ac.jp/~kuroki/Sokal/bricmont/node16.html

    (siehe dazu auch die Einstein-Diskussionen bei mir im Blog)

  3. #3 Thilo Kuessner
    Juni 2, 2009

    und für Leser mit geisteswissenschaftlicher Vorbildung auch noch https://www.passerelle.de/cms/front_content.php?idcatart=198&lang=1&client=1

    (Sorry für das Zerreißen des Kommentars. Kommentare mit zu vielen Links landen bekanntlich im Spamfilter.)

  4. #4 Thilo Kuessner
    Juni 2, 2009

    Und noch zum Artikel: die Dichotomie ist nicht: Wissenschaftsphilosophie ja oder nein?
    Die Dichotomie ist: gute (kompetente) oder schlechte (inkompetente) Wissenschaftsphilosophie.

    Es gibt zum Beispiel sehr gute wissenschaftsphilosophisce Werke von Poincare: “Wissenschaft und Methode”, “Wissenschaft von Hypothese”, “Vom Wert der Wissenschaft”. (Nicht ganz aktuell, ich weiß.) Ob es auch aktuelle kompetente wissenschaftsphilosophische Bücher gibt, ist mir nicht bekannt.Gehört habe ich jedenfalls noch von keinem.

  5. #5 Georg Hoffmann
    Juni 2, 2009

    Thilo hat Sokal ja schon zitiert (Impostures intellectuelles). Ich glaube, vielen Naturwissenschaftlern geht einfach das Klappmesser auf, wenn Begriffe, die mit Mathematik/Experimenten und harter Arbeit verbunden sind, in einen Whirlpool aus beliebig aufgeschnappten naturwissenschaftlichen Vokabeln und leerer Rhetorik geschmissen werden.
    Und dass viele der Beteiligten Franzosen sind, na das ueberrascht mich nach 10 Jahren hier auch nicht wirklich. Ab der erfolgreichen Kontrolle des zweiten Subjonctivs in der Vergangenheitsform haelt den frz Intellektuellen einfach nichts mehr und der Rausch beginnt.

  6. #6 Georg Hoffmann
    Juni 2, 2009

    Thilos Links sind in der Tat phantastisch. Ich mach mal den Claqueur und zitiere mal die schoenste Stelle aus Latours Einstein Interpretation (nach Sokal)

    “provided the two relativities [special and general] are accepted, more frames of reference with less privilege can be accessed, reduced, accumulated and combined, observers can be delegated to a few more places in the infinitely large (the cosmos) and the infinitely small (electrons), and the readings they send will be understandable. His [Einstein’s] book could well be titled: “New Instructions for Bringing Back Long-Distance Scientific Travellers”. [Latour, 1988] “

    Das ist nur noch komisch. Saukomisch.
    Die deutsche Sokal Seite in Wikipedia ist ein bisschen langweilig und fuer die Francophonen sei auf die Wiki Seite der Impostures verwiesen:
    https://fr.wikipedia.org/wiki/Impostures_intellectuelles
    Dort findet sich eine Liste von typischen Vorgehensweise einiger Wissenschaftsphilosophen, die auch hier auf arte-fakten reichlich Verwendung findet:

    1) Parler abondamment de théories scientifiques dont on n’a, au mieux, qu’une très vague idée. Dans la plupart des cas, les auteurs visés par ce travail ne font qu’utiliser une terminologie scientifique (ou apparemment scientifique) sans trop se soucier de la véritable signification des mots.

    2)Importer des notions de sciences exactes dans les sciences humaines sans donner la moindre justification empirique ou conceptuelle à cette démarche. Un biologiste qui voudrait utiliser dans son domaine de recherche des notions élémentaires de topologie (telles que le tore), de la théorie des ensembles ou encore de la géométrie différentielle, serait prié de donner quelques explications. Une vague analogie ne serait pas prise très au sérieux par ses collègues. Ici, par contre, on apprend avec Lacan que la structure du névrosé est exactement le tore, avec Kristeva que le langage poétique relève de la puissance du continu et avec Baudrillard que les guerres modernes se déroulent dans un espace non-euclidien.

    3) Exhiber une érudition superficielle en jetant sans vergogne des mots savants à la tête du lecteur, dans un contexte où ils n’ont aucune pertinence. Le but est sans doute d’impressionner et surtout d’intimider le lecteur non scientifique. Certains commentateurs s’y laissent d’ailleurs prendre : Roland Barthes fait l’éloge de l’exactitude du travail de Kristeva et Le Monde admire l’érudition de Paul Virilio.

    4) Manipuler des phrases dénuées de sens et se livrer à des jeux de mots. Il s’agit d’une véritable intoxication verbale, combinée à une superbe indifférence pour la signification des termes utilisés.

    5) Parler avec une assurance que la compétence des auteurs ne justifie nullement. Jacques Lacan se vante d’utiliser « le plus récent développement de la topologie » et Bruno Latour se demande s’il n’a pas appris quelque chose à Einstein. Au-delà des querelles de chapelles et de personnes, la dispute porte sur la façon de parler des sciences, certains procédés rhétoriques s’apparentant à un usage détourné du prestige des sciences exactes, une forme d’extension de l’argument d’autorité qui permet de donner un vernis de rigueur à son discours. Pour Sokal et Bricmont, les auteurs attaqués ont cru que personne ne relèverait leur usage abusif des concepts scientifiques. Qui est assez autorisé pour s’écrier que « le roi est nu » ?

  7. #7 Andrea N.D.
    Juni 2, 2009

    Es ist wirklich fantastisch: Mittlerweile brauche ich die Artikel gar nicht mehr lesen – der Inhalt ist austauschbar, die Aussage ist dieselbe. Vielen Dank an die Mühe von Thilo und Georg – leider sicherlich auch diesmal wieder vergeblich.

  8. #8 Ulrich Berger
    Juni 2, 2009

    Wissenschaftsforscher haben es doppelt schwer: Zuerst müssen sie die Wissenschaft verstehen und dann noch das Treiben der Wissenschaftler. Oft lassen sie das erste ein wenig schleifen, woran dann auch das zweite krankt, und den Spott der Wissenschaftler haben sie obendrein.

    @ Georg: Ich hab schon ein schlechtes Gewissen wenn ich zu viel Englisch zitiere. Aber bei dem was du hier reinstellst komm ich mir trotz dreier Jahre Freigegenstand Französisch vor wie ein ungebildetes Würschtl!

  9. #9 Jörg Friedrich
    Juni 2, 2009

    Es ist überhaupt besser, wenn man sich das Urteil bereits bildet, bevor man einen Text liest. Man muss nur aufpassen, wenn man dann verlinkt, kann es ja passieren, dass jemand anderes die verlinkten Texte doch liest. Insofern danke ich vor allem für die Verlinkung des Dirk Becker Textes, der auch gleich die Frage, ob es heute “kompetente wissenschaftsphilosophische Bücher” gibt, ziemlich eindeutig beantwortet. (Ich bin mir irgendwie nicht sicher, dass Thilo Kuessner diesen Text wirklich verstanden und bis zu Ende gelesen hat, da die Fragen, die er in seinem vierten Kommentar stellt, ja durch Dirk Becker recht eindeutig mit “Ja, die gibt es. Latour schreibt solche Bücher.” beantwortet)

    Dass Sokal mit Latour ein Problem hat, ist natürlich nicht überraschend, wir hatten das Thema ja schon einmal anderenorts.

    Bestürzend finde ich eigentlich vor allem die Reaktion von Thilo Kuessner und Georg Hoffmann dahingehend, dass sie offenbar gar nicht auf die Idee kommen, Latours Text selbst einmal vorurteilsfrei zur Hand zu nehmen und zu lesen. Sie sammeln sich ein paar Links, die ihre Vorurteile bestätigen, und freuen sich, dass das Internet solche Links in Sekunden bereit hält. Was soll damit bewiesen werden?

  10. #10 Andrea N.D.
    Juni 2, 2009

    Ich habe mir kein Urteil gebildet – die Texte sind bis auf (Twitter) austauschbar und beinhalten immer dieselbe Aussage. Den wissenschaftlichen Touch geben sie sich durch irgendeinen Autor / Wissenschaftler / Philosophen, der dann für die Zwecke der Argumentation missbraucht wird. Deshalb ist es auch nicht möglich, dies zu widerlegen. Man kann (fast) jeden Autor nach seinem Erkenntnisinteresse lesen.
    Spannend wird nur mittlerweile die Ausdauer, mit der dies hier betrieben wird: Sind wir alle glücklich, wenn wir alle zustimmen, dass Wissenschaft böse und gemein ist, Wissenschaftler doof und Wissenschaft dringend von einem Oberphilosophen kontrolliert werden muss? Oder wären wir vielleicht alle viel glücklicher, wenn es nie jemand wie einen Wissenschaftler gegeben hätte und wir uns heute noch in den Höhlen an den Haaren ziehen würden, uns um die Keulen streiten würden und vor dem Herren Oberphilosophen niederknien? Irgendwie läuft das auf dasselbe heraus …

  11. #11 Jörg Friedrich
    Juni 2, 2009

    Für diejenigen, die am Gegenstand wirklich interessiert sind möchte ich darauf hinweisen, dass es bei dem von Georg Hoffmann zitierten Sokal-Zitat über Latours Artikel (warum selbst lesen wenn man Zitate von Zitaten zitieren kann?) “A Relativistic Account of Einsteins Relativity” nicht darum ging, den Inhalt der Relativitätstheorie wiederzugeben. Ich zitiere mal direkt Latour: “This paper explores in some detail a semi-popular text written by Einstein to present his theory of relativity. Semiotic tools are used to compare what Einstein says about the activity of building spaces and times with what sociologists of science can tell us. … The goal of such a semiotic study is twofold: to allow the adaptation of the strong programme to the peculiar conditions of the theoretical sciences; and to find a vocabulary for an activity best defined as infra-physics.”

    Hierbei sollte man bedenken dass das Wort “relativistisch” in der Philosophie eine bestimmte Bedeutung hat – “Relativistischer Ansatz” bezieht sich natürlich auf diese Bedeutung.

    Sokal hat dann ein paar Sätze aus dem text herausgepickt und sich mit seinen Freunden königlich darüber amüsiert, dass diese Sätze den Inhalt der Relativitätstheorie nicht treffen wiedergeben – was auch nicht ihr Ziel war und deshalb nicht überraschend ist. Im Abstract bereits hätten sie lesen können: “Einstein’s text is read as a contribution to the sociology of delegation.” Das ist Dekonstruktion, die Leser des Journals waren mit dieser Methode vertraut, und dem Physiker hätte es gut zu Gesicht gestanden, sich zunächst über die Methoden des Artieks zu informieren, bevor er sich darüber belustigt.

  12. #12 Thilo Kuessner
    Juni 2, 2009

    Ich werde diese Woche nicht mehr dazu kommen, aber vielleicht/hoffentlich die nächste Woche, mal einen Artikel über heutige Wissenschaftsphilosophie (natürlich eingeschränkt auf diejenigen Themenbereiche, von denen ich ein wenig verstehe) ins Netz zu stellen. Hinweise auf gute aktuelle wissenschaftsphilosophische Werke nehme ich dafür natürlich gerne entgegen. (Aber bitte nicht wieder Hinweise auf irgendwelche Relativitätsspinner. Das Thema wird seit 2 Monaten bei mir im Blog rauf und runter diskutiert, übrigens unter maßgeblicher Beteiligung einer französischen “Wissenschaftsphilosophin”.)

  13. #13 Thilo Kuessner
    Juni 2, 2009

    Natürlich: Wer einen Gegenstand erforscht, erhält vielleicht (man kann sogar sagen: hoffentlich) überraschende Ergebnisse. Und gerade wenn der Gegenstand sich aus Handlungen von Menschen konstituiert ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Forschung eine neue Sicht auf eben diese Handlungen hervorbringt, dass auch diese Menschen, deren handeln da untersucht wird, mit unerwarteten Erkenntnissen konfrontiert werden.

    Siehe zum Beispiel den letzten Abschnitt in https://www.scienceblogs.de/mathlog/2008/10/kandinsky-in-munchen.php
    Der Autor bezieht seine ‘Erkenntnisse’ aus der Lektüre von Jacques Lacan, der zwar ursprünglich kein Wissenschaftsphilosoph, sondern Psychoanalytiker ist, aber doch (jedenfalls liest man das gelegentlich, ich kann nicht beurteilen, ob es zutrifft) als prägend für den Zweig der französischen Geisteswissenschaften, dem z.B. Latour angehört, gilt.

  14. #14 Jörg Friedrich
    Juni 2, 2009

    In seinem Kandinsky-Text den er soeben verlinkt hat, schreibt Thilo Kuessner u.a. “Nach meinem Beitrag zur Geometrie der “Sagrada Familia” letzte Woche kommentierte ein Leser, Künstler seien genial und arbeiteten nicht nach mathematischen Formeln. Das ist natürlich richtig. Aber trotzdem kann man ja versuchen, mathematische Strukturen in den Werken zu erkenen.” Genau das, nur in umgekehrter Richtung, tun Wissenschaftsforscher: Sie analysieren wissenschaftliche Texte mit den Methoden der Wissenschaftsforschung. Ist zu erwarten dass Künstlern “das Klappmesser aufgeht” (Georg Hoffmann) wenn ein Mathematiker versucht, “mathematische Strukturen in den Werken zu erkennen”?

    Warum können Wissenschaftler sich nicht einfach ganz gelassen mit den Ergebnissen der Wissenschaftsforscher beschäftigen oder warum ignorieren sie sie nicht einfach? Warum werden Klappmesser gezückt?

  15. #15 Marc
    Juni 2, 2009

    Ach herrje, wieso wieder diese Aufregung? Im obigen Text lese ich – im Gegensatz zu Andrea N.D. – beim besten Willen keinen Angriff auf “die” Wissenschaft und auch nicht, daß Wissenschaft “böse” sei etc.

    Und den Redundanz-Vorwurf (daß der Text lediglich eine Variation früherer Artefakten-Texte sei) finde ich ehrlicherweise auch lächerlich. Georg Hoffmann schreibt doch auch (zum Glück!) immer wieder über neue Messungen und Belege, die die These der Klimaerwärmung belegen, Florian meckert regelmäßig über die naiv-unkritische Haltung weiter Bevölkerungsteile gegenüber der Homöopathie etc.

    Ein Blog, der das philosophisch-sozialwissenschaftliche Nachdenken über Wissenschaft zum Thema hat, hat sich aber überlebt, wenn mehrmals ähnliche Aspekte thematisiert werden? Ich verstehe die Kritik daran jedenfalls nicht.

    Ich für meinen Teil habe die kleine Notiz oben jedenfalls mit Vergnügen gelesen. Gut, ich habe nichts Neues erfahren, was daran liegen mag, daß in meinem Bücherregal mindestens zwei Latour-Bücher (Wir sind niemals modern gewesen + Die Hoffnung der Pandora) stehen. (Zu schweigen von mehrern Aufsätzen aus seiner Feder.) Oute ich mit damit als Wissenschaftsfeind?

    Ich halte die angesprochene Beobachtung (das “besondere” Verhältnis der Wissenschaftsforscher zu ihrem Gegenstand und dessen Reaktion) jedenfalls keineswegs für trivial, sondern sehr wohl für diskussionswürdig. Wenn ich Zeit finde, dann schreibe ich selbst etwas ausführlicher dazu.

    Der Kern des Problems liegt (jedenfalls nach meinem Verständnis) eben in diesem ambivalenten Gegenstandbezug. Und diese Ambivalenz hat Niklas Luhmann in seiner unnachahmlichen Weise zum Ausdruck gebracht, als er sagte:

    “Botaniker sind keine Bäume.”

    Und damit hatte er offensichtlich recht, wie man auch an den Auseinandersetzungen hier bei den Arte-Fakten nachlesen kann.

  16. #16 Georg Hoffmann
    Juni 2, 2009

    @Ulrich Berger
    Ok, sorry.
    Hier eine hausgemachte und frei Uebersetzung Uebersetzung. Sokals Sammlung der wichtigste Kniffs bestimmter Wissenschaftstheoretiker. Ich meine man findet alle 5 Techniken hier in Fuelle, mit Vorliebe aber Punkt 5.

    1) Man benutze reichlich (natur)wissenschaftliche Theorien, von deren Inhalt man bestenfalls ansatweise eine Ahnung hat. In den meisten der Faelle dient den Autoren diese Theorien nur als ein Arsenal fuer eine wissenschaftlich Terminologie, um deren Inhalt sie sich nicht weiter scheren.

    2) Man führe möglichst viele Ausdrücke aus den Naturwissensschaften in die Geisteswissenschaften ein ohne auch nur die geringste empirische oder konzeptuelle Begründung dafür zu liefern. Ein Biologe, der gerne Ausdrücke aus der Elementar-Topologie (wie zB der Torus), der Mengenlehre oder auch der Differential-Geometrie verwenden möchte, würde sicher darum gebeten, einige Erklärungen zu geben. Eine vage Analogie würde sicher nicht Ernst genommen von seinen Kollegen. Hier aber (GH in der Wissenschaftssoziologie) hoert man von Lacan, dass die Struktur der Neurose exakt einem Torus gleicht, von Kristeva, dass die poetische Sprache die Mächtigkeit des Kontinuums habe (GH: Anspielung auf Cantors Beschreibung der reellen Zahlen), und von Baudrillard, dass die modernen Kriege sich in einem nicht-euklidischen Raum abspielten.

    3)Man demonstriere stets eine oberflächliche Bildung, indem man ohne Unterlass gelehrte Worte dem Leser an den Kopf werfe, das in einem Zusammenhang, wo sie eigentlich nichts zu suchen haben. Das Ziel ist ohne Zweifel Eindruck zu schinden und vor allem den nicht-naturwissenschaftlichen Leser zu beeindrucken.

    4) Man verdrehe Sätze, bis sie bar jeden Inhalts sind, und stürze sich auf Wortspiele. Es handelt sich um eine wahre verbale Vergiftung, die stets mit einer brillanten Gleichgültigkeit gegenüber dem eigentlichen Sinn der benutzten Ausdrücke gepaart ist.

    5) Man spreche stets mit einem enormen Selbstbewusstsein, welche leider nicht im
    Mindesten durch die Kompetenz des Autors gerechtfertigt ist. Jacques Lacan ist stolz darauf “die allerneuesten Entwicklungen in der Topologie zu verwenden” und Bruno Latour fragt sich, ob er nicht Albert Einstein etwas beigebracht habe. Jenseits dieser Grabenkriege und der beteiligten Personen geht es aber um die Art und Weise von Wissenschaft zu sprechen. Bestimmte rhetorische Vorgehensweisen grenzen an einen Missbrauch der Naturwissenschaften, eine Art Ausweitung der “Argumentationsweise per Autorität”, die es einem erlaubt, seinem Diskurs den Firnis der exakten Naturwissenschaften anzulegen.

  17. #17 Ulrich Berger
    Juni 2, 2009

    @ Georg: Vielen Dank, das hilft!

  18. #18 Thilo Kuessner
    Juni 2, 2009

    Und den Redundanz-Vorwurf (daß der Text lediglich eine Variation früherer Artefakten-Texte sei) finde ich ehrlicherweise auch lächerlich.

    Redundant sind die Texte nicht so sehr deshalb, weil sich Aussagen wiederholen, sondern weil nur immer wieder angekündigt wird, Wissenschaftler könnten aus der Wissenschaftsphilosophie viel lernen, man aber (von trivialen Allgemeinplätzen wie beim Erdbeben-Thema mal abgesehen) nie erfährt, was man denn nun eigentlich lernen kann.

    “Botaniker sind keine Bäume” trifft nicht den Punkt der Kritik. Botaniker beschäftigen sich sehr ernsthaft mit Bäumen. Und genau so wäre es natürlich tatsächlich wichtig, sich mit den Methoden von Wissenschaft kritisch zu beschäftigen. (Ich hatte ja oben auf die Bücher von Poincare verwiesen. Mir ist nicht bekannt, daß es vergleichbare Bücher z.B. zu heutigen Forschungsthemen der Physik gäbe.)

    Das Problem vieler real existierender Wissenschaftskritiker und auch dieses Blogs ist, daß sie sich nicht mit der real existierenden wissenschaftlichen Forschung beschäftigen, sondern mt deren Abbild in Medien und Kultur.

    Heutige Wissenschaft ist natürlich sehr komplex und ihre Darstellung in Medien oder populärwissenschaftlichen Büchern immer sehr vereinfacht. Wer als Wissenschaftler seine Arbeit in den Medien präsentieren will, versucht nicht, seine Arbeit korrekt darzustellen, sondern möglichst einfache Veranschaulichungen und Analogien zu finden, mit denen sie ihr Gebiet erklären.

    Dagegen ist natürlich nichts zu sagen. Problematisch wird es aber, wenn die Arbeiten von Wissenschaftsphilosophen eben nicht mehr auf Fachkompetenz in den behandelten Gebieten aufbauen, sondern ihr Wissen nur noch aus Nature-Editorials oder Texten in Tageszeitungen beziehen. Da wird dann das didaktisch aufbereitete, stark vereinfachte (und im Detail meist falsche) Bild von Wissenschaft in der populärwissenschaftlichen Literatur plötzlich zur Grundlage neuer wissenschaftlicher “Erkenntnisse”.

  19. #19 Jörg Friedrich
    Juni 2, 2009

    @Thilo Kuessner: Als aufmerksamer Leser des Blogs Arte-Fakten sind Ihnen sicher meine Hinweise beispielsweise auf Nancy Cartwright, Ian Hacking und Baas van Fraassen nicht entgangen. Falls Sie tatsächlich auf der Suche nach aktueller wissenschaftsphilosophischer Literatur sind empfehle ich diese Autoren zum Einstieg – dann werden Sie auch bemerken, dass die gegenwärtige Wissenschaftsphilosophie sich durchaus mit aktuellen physikalischen und andern wissenschaftlichen Themen beschäftigt – natürlich immer mit einem gewissen Abstand, denn erst aus einem solchen Abstand ist es möglich, einen Prozess einzuordnen und zu analysieren.

    Da Sie so ein treuer Leser der Arte-Fakten sind wird Ihnen auch nicht entgangen sein, dass ich meine Informationen nicht nur aus den nature-editorials ziehe und dass ich bisher nirgens auf die Wissenschaftskommunikation in Tageszeitungen verwiesen habe, wenn ich etwas an Beispielen illustriert habe. Auch eine Neigung, mir mal rasch ein paar Zitate von Zitaten zusammenzugooglen werden Sie bei mir kaum finden können.

    Allerdings ist das Abbild der Wissenschaft in Medien und Kultur tatsächlich ein interessantes Thema und Ihr Satz “Wer als Wissenschaftler seine Arbeit in den Medien präsentieren will, versucht nicht, seine Arbeit korrekt darzustellen, sondern möglichst einfache Veranschaulichungen und Analogien zu finden, mit denen sie ihr Gebiet erklären.” – wenn er richtig ist – verweist auf ein Problem, dessen Konsequenzen und beteiligte Motivationen durchaus Gegenstand von Wissenschaftsforschung sind.

    Sie selbst schreiben im Übrigen auch nicht täglich in Ihrem Blog über Ihre aktuellen Arbeiten und neuesten Erkenntnisse. Was ich hier versuche ist, zunächst einige Grundfragen überhaupt darzustellen, Problemkomplexe aufzuzeigen. Dazu gehört z.B. die Frage nach der Existenz theoretischer Entitäten, die nach der Konstruiertheit von Fakten, die nach der Theoriebeladenheit der Beobachtung, die nach der Falsifizierbarkeit von Theorien. All diese Fragen sind in den letzten vier Wochen hier angesprochen worden, außerdem stellte ich Standpunkte verschiedener Autoren vor.

    @alle: Leider beschäftigt sich die Diskussion in den meisten Ordnern bei Arte-Fakten wenig mit dem einzelnen Thema oder Aspekt, sondern ein paar Kommentatoren führen sie schnell in immer die gleiche Richtung. Wie ich aus Mails erfahren musste, verleidet das anderen Kommentatoren sehr schnell die Idee, sich zum ursprünglichen Inhalt zu äußern.

    Ich möchte niemandem verbieten, seine spontanen Gedanken zu einem Text zu äußern, aber ich finde es unerfreulich und auch unhöflich anderen möglichen Diskussionsteilnehmern gegenüber, wenn die Kommentare in der Mehrzahl nicht mehr als den Namen des besprochenen Autors mit dem Text gemeinsam haben und jede Text-Diskussion immer aufs Neue auf diese Weise blockiert wird.

  20. #20 Georg Hoffmann
    Juni 2, 2009

    @friedrich

    Aber das hat mit einem gelassenen Verständnis von Forschung nichts zu tun: Kein Biologe urteilt über die Lebensformen, die er untersucht, und das gleiche gilt für die Kunst- und die Politikforschung.

    Nochmals, die Frage uebertragen auf jemanden wie Latour ist nicht, ob der Biologe den Baum beurteilt, sondern, ob er wissenschaftlich weiss, wovon er spricht.
    Das Zitat Latours oben belegt 1) dass er irgendwie meint die spezielle und die allgemeine Relativitaet waeren irgendiwe eng miteinander verwandt und (ein kaum fuer moeglich gehaltener Klassiker) meint, dass eine sei eine Erweiterung des anderen. 2) dass er Einsteins paedagogische Erlaeuterungen zum Beobachter und zum Bezugsrahmen voellig falsch versteht und sich nicht dir geringste Muehe gibt und/oder gegeben hat, diese Begriffe zu verstehen. Sie sind ihm Anlass eines freien Raps, den er auch mit anderen Huelsen haette fuellen koennen. Die Buechse der Pandora ist seine Werzeugkiste mit schlau-klingenden Ausdruecken, mit denen man Geisteswissenschaftlern Angst machen kann.

  21. #21 Jörg Friedrich
    Juni 2, 2009

    @Georg Hoffmann: Ich kann nur immer wieder empfehlen, Latours Text einfach einmal im Original zu lesen und wenigstens die wichtigsten Begriffe der Methoden der Wissenschaftsforschung nachzuschlagen. Um nochmal in Thilo Kuessners Bild zu bleiben: Wenn ein Mathematiker mit seinen Methoden ein Kandinski-Bild nach geometrischen Formen durchsucht, dann behauptet niemand, und am allerwenigsten wohl der Mathematiker selbst, er interpretiere gerade Kandinski und wolle den künstlerischen Inhalt des Bildes wiedergeben. Ebenso ist es hier, und Latour schreibt ja ausdrücklich, wie ich oben schon zitiert hatte: “The goal of such a semiotic study is twofold: to allow the adaptation of the strong programme to the peculiar conditions of the theoretical sciences; and to find a vocabulary for an activity best defined as infra-physics.”

    Es ist natürlich dann genauso unsinnig, diese Arbeit zu kritisieren ohne z.B. zu wissen was semiontic studies und was das strong programme ist, wie es sinnlos ist, den Mathematiker, der geometrische Formen in Kandinski-Bildern analysiert, zu kritisieren ohne zu wissen, was Geometrie ist.

  22. #22 Georg Hoffmann
    Juni 2, 2009

    @friedrich
    “infra-physics” faellt unter Punkt 2 oder 4?

  23. #23 Thilo Kuessner
    Juni 2, 2009

    Es ist natürlich dann genauso unsinnig, diese Arbeit zu kritisieren ohne z.B. zu wissen was semiontic studies und was das strong programme ist, wie es sinnlos ist, den Mathematiker, der geometrische Formen in Kandinski-Bildern analysiert, zu kritisieren ohne zu wissen, was Geometrie ist.

    Ich nehme mal an, daß semiotische Studien gemeint sind, jedenfalls habe ich semiontisch im Lexikon nicht gefunden.
    Ohne das “strong programme” und die “Infra-Physik” zu kennen, glaube ich aber doch, daß ein Verständnis des Inhaltes auch dann hilfreich sein dürfte, wen man einen Text nur auf die Bedeutung von Wörtern und Zeichen untersuchen will. Wie will man zu Erkenntnissen über die Bedeutung von Wörtern (im Kontext eines Textes) kommen, wenn man die Aussagen des Textes nicht versteht???

    (Gut, natürlich kann man, in Analogie zum Mathematiker, der nach Kreisen in Kandinskys Bildern sucht, auch als Sprachwissenschaftler nach grammatischen Strukturen oder speziellen Begriffen in Einsteins Texten suchen. Allerdings hat das dann mit Wissenschaftsphilosophie nichts zu tun, sondern ist allenfalls angewandte Linguistik.)

  24. #24 Patrick
    Juni 2, 2009

    Zitat v. Marc:
    Georg Hoffmann schreibt doch auch (zum Glück!) immer wieder über neue Messungen und Belege, die die These der Klimaerwärmung belegen, Florian meckert regelmäßig über die naiv-unkritische Haltung weiter Bevölkerungsteile gegenüber der Homöopathie etc.

    Es mag auch an der öffentlichen Darstellung der Scienceblogs liegen, die jene Thematik der Wissenschaftskritik oder -anfeindung immer wieder aufkeimen lassen.

    Auf der einen Seite hat man nun als nicht wissenschaftlich betagter Mensch eine Anlaufstelle, bestimmte Fragen, Theorien oder Ansichten öffentlich mit tatsächlichen Wissenschaftlern zu teilen, merkt dann aber ganz schnell, dass hier neben durchaus interessanten Themen (z. B. Florians aktuelle Reihe zum “Phasenraum”) eben auch durchweg eine gewisse Ideologie vertreten wird, die das Wissenschaftsbild (nun, da es Vertreter der Wissenschaften sind, die hier bloggen) zu einem “absoluten” Gebilde machen, dessen Bewertungen sozusagen von den behauptenden Wissenschaftlern bestimmt wird.
    Es ist kein Kampf verschiedener Sichten auf die Wissenschaft – es ist vielmehr ein Konflikt der Bewertung, und dass sich eine Seite in der Position sieht, “höherwertige” Bewertungen abzugeben, da sie die Materie von Grund auf erlernt haben (belesen und praktisch untersucht – wobei schließlich jeder mit der Materie irgendwie “arbeitet”, wenn meist auch unbewusst;
    wenn mir ein Apfel auf den Kopf fällt oder ich meine Nudeln abgieße, erkenne ich darin Schwerkraft).

    Dass aber auch das Gedankengut, vor allem, das “neutrale” Gedankengut, eines ganz gewöhnlichen auf die Scienceblogs gelockten Besuchers be- oder entwertet wird, stellt für mich einen klaren Gegensatz zur “Wissen-Schaft” dar.
    Heißt natürlich nicht, dass sich der Scienceblogger nicht gegen tatsächlich aggressive Anfeindungen oder Unterstellungen wehren dürfte. Doch genau diese Freiheit (dass er es eben in wissenschaftlichem Kontext darf), verleitet zum Ausnutzen der Situation über Verallgemeinerungen und Pauschalisierungen, die eben auch Latour anspricht.

    Was bitte erwartet ein Scienceblogger, wenn sein aktuelles Thema “Astrologie ist Unsinn” oder “Bnd.90/Die Grünen sind neidisch auf die Schweiz” lautet? Dass massenhaft Astrologen und Grünen- Mitglieder vorbeikommen, und den Bloggern zu ihren wissenschaftlichen Erkenntnissen Beifall leisten?
    Da wird mit der Keule geschwungen, welche die Aufschrift trägt: “Wissenschaftliche Evidenz – 100% korrekt, wenn auch subjektiv und pauschal – kommt her, Wissenschaftsfeinde – und kritiker, und lasst euch hauen!”

  25. #25 Ulrich Berger
    Juni 2, 2009

    @ Jörg Friedrich:

    In Ihrer Verteidigung von Latours Relativity-Artikel haben Sie zwei (m.E. wichtige) Sätze aus dem Abstract nicht mit zitiert (Hervorhebung durch mich):

    Once the drama of Einstein’s argument has been reconstructed, it is possible to learn from his theory of relativity something about the classical problem of `relativity’ in the STS field. A comparison is established between the notion of social context and that of the aether, and an argument is developed to lead us beyond `social’ explanations.

    Solange ich den Artikel selbst nicht gelesen habe, enthalte ich mich da eines Urteils. Aber ich frage mich schon: Was könnten wir eventuell daraus lernen, wenn wir “the notion of social context and that of the aether” miteinander vergleichen? Und ist es nicht so, dass auch viele jener, die den gesamten Text gelesen haben und die Methoden der Wissenschaftsforschung selbst kennen, trotzdem nicht beruhigt sind? Z.B. Mario Bunge, selbst Philosoph und Physiker, der so urteilt:

    Because the constructivist-relativists deny that there is any conceptual difference between science and other human endeavors, they feel entitled to pass judgment on the content of science, not only on its social context. Thus, after reading one of Einstein’s popularizations of special relativity, Latour concludes that the poor man was wrong in believing that it deals with “the electrodynamics of moving bodies,” the title of the founding paper – one that Latour could not possibly understand for lack of mathematical and physical competence. The theory, he reveals to us, is about long distance travelers. Not only this: it renders everything physical relative to the knower (not to the reference frame), thus confirming subjectivism – the misinterpretation popular among idealist philosophers at the beginning of this century. There is no telling what further wonders these modern day “Darwins of science” – as Latour calls himself and his friends – may bring.

  26. #26 Jörg Friedrich
    Juni 2, 2009

    @Thilo Kuessner: Danke für den Hinweis auf den Tippfehler, wird gleich korrigiert.

    @Thilo Kuessner, Georg Hoffmann: Irgendwie werde ich, wenn ich Ihre Kommentare lese, das Bild von den Mönchen nicht los, die sich in Brechts “Leben des Galilei” weigern, durch das Fernrohr zu schauen (weil sie ja vorher schon wissen, dass das, was man da sieht, Humbug, Täuschung und Teufelszeug ist, würde es natürlich auch wenig helfen, wenn sie’s täten)

    @Patrick: Den Eindruck, dass bei ScienceBlogs “durchweg eine gewisse Ideologie vertreten wird … die das Wissenschaftsbild … zu einem “absoluten” Gebilde machen” teile ich nicht. Ich sehe neben den Arte-Fakten z.B. beim Echo-Lot und beim Wissenschaftsfeuilleton immer wieder interessante und kritische Blicke auf die Wissenschaft.

  27. #27 Patrick
    Juni 2, 2009

    @ J. Friedrich:
    Ich sehe neben den Arte-Fakten z.B. beim Echo-Lot und beim Wissenschaftsfeuilleton immer wieder interessante und kritische Blicke auf die Wissenschaft.

    Da nennen Sie gerade die Ausnahmeerscheinungen, richtig. Die Blogs, die regelmäßigen Zulauf haben (vermutlich wg. der Thementitel), bedienen sich jedoch sehr häufig des “Absolut- Gebildes”, wie ich finde.

  28. #28 Jörg Friedrich
    Juni 2, 2009

    @Ulrich Berger: Ich bin ehrlich gesagt nicht sicher, ob der Relativity-Text von Latour der geeignete Weg ist um sich in Latours Werk einzusteigen. Er ist, wie ich schon erwähnte, recht voraussetzungsreich, Teil einer umfangreichen Debatte und voll von Begriffen aus den Science Studies die man kennen sollte um den Text richtig einordnen zu können. Es ist, als wenn Sie sich ein Letter aus irgendeinem Journal of … Resarch als Einstieg in ein Forschungsfeld nehmen. Dass Sokal sich diesen text herausgepickt hat, hat der Verständigung zwischen Naturwissenschaftlern und Wissenschftsforschern nicht genützt.

    Deshalb habe ich hier auch auf Latours “Hoffnung der Pandora” verwiesen. Das Buch, bei suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2002 in Deutsch erschienen, gibt einen guten Überblick über Latours Methode und enthält neben dem allgemeinen ersten Kapitel, in dem es um eine reihe von Missverständnissen aus den Science Wars geht, ein paar typische Studien Latours.

  29. #29 Marc
    Juni 2, 2009

    @Thilo:

    Mein Luhmann-Zitat (“Botaniker sind keine Bäume!”) war wohl etwas mißverständlich. Damit wollte ich zumindest nicht zum Ausdruck bringen, daß die botanische Forschung irgendwelche Defizite aufweist. (Weil Du schreibst: “Botaniker beschäftigen sich sehr ernsthaft mit Bäumen.”)

    Das wollte ich nicht in Abrede stellen, behaupte aber gleichzeitig, daß sich Wissenschaftssoziologen ebenso ernsthaft mit Wissenschaft befassen.

    Worauf es mir ankam:

    Im Gegensatz zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen, hat die Soziologie (wie andere Gesellschafts- und Kulturwissenschaften) stets ihren Gegenstandsbezug zu reflektieren bzw. wird immer wieder mit Unschärfen in dieser Frage konfrontiert; konkret: der Botaniker kann sich (von Einzelfällen abgesehen) sicher sein, daß sein Untersuchungsgegenstand (der Baum) ein tatsächlicher “Gegenstand” ist, der kategorial von ihm (dem Botaniker) unterschieden ist. Der Botaniker ist sich sicher, daß er selbst kein Baum ist.

    Das ist der Punkt.

    Für Wissenschaftssoziologen gilt aber, daß eben “Wissenschaft” ihr Gegenstand ist, sie selbst “Wissenschaftler” sind, sie selbst akademisch-wissenschaftlich sozialisiert wurden, auf die wissenschaftliche Literatur rekurrieren, die Konventionen ihrer Disziplinen genügen müssen etc.

    Und ein Großteil der Irritationen (jedenfalls nach meiner Wahrnehmung) resultiert letztlich aus diesem Umstand: Gegenstand, Methode und Perspektive fallen bei der Wissenschaftssoziologie teilweise zusammen.

    Wobei es – das gebe ich gerne zu – kritisiert werden muß und darf, wenn Latour oder anderen kapitale Fehler unterlaufen und sie bspw. Grundaussagen der Relativitätstheorie mißverstehen (wollen).

  30. #30 Thilo Kuessner
    Juni 2, 2009

    @ Marc: Das bestreitet ja alles niemand, jedenfalls in dieser allgemeinen Formulierung. Es geht nicht um den Grundsatz, sondern um das, was konkret daraus gemacht wird.

    @ Jörg Friedrich: dann erzählen Sie uns doch, was man beim Blick durchs Fernrohr sehen würde. Also, was konkret kann man daraus lernen (bzw. hat Latour daraus gelernt), daß man Einsteins Texte semiotisch untersucht? Bis jetzt erzählen Sie uns nur immer wieder, DASS man aus Latours Arbeiten etwas lernen könne. Interessanter wäre es zu wissen, WAS man daraus lernen kann.

  31. #31 Georg Hoffmann
    Juni 2, 2009

    @Friedrich
    Und konkret und an Thilo anlehnend haette ich gerne gewusst, warum man ueber Einstein arbeitet, zu den mathematisch-physikalischen Hintergrund soviel sagen kann wie ich zu den Cricket Regeln, und dann permanent mit Begriffen flirten muss, die in Einsteins Text sich auf eben diese mathematischen Hintergrund beziehen, nun aber ploetzlich was anderes meinen sollen? Der kleine Moench in mir geht derweil mal Reisig sammeln.

  32. #32 rolak
    Juni 2, 2009

    ^^Das ist ja nicht mehr feierlich – da acker ich mich mit Babelfisch und Pons durch den französischen Text nur um nach dem Verstehen und Weiterblättern eine Übersetzung zu finden… Trainingskurs hier?

    Einen Hang zum wissenschaftlichen Absolutismus sehe ich bisher in keinem der blogs unter SB – es werden halt einige Leser des öfteren davon erschüttert, daß gewisse Dinge einer Untersuchung zugänglich sind und diese unverschämterweise auch schon unternommen wurde. Solcherart gewonnene Ergebnisse können sehr leicht den hier sehr wohl zu findenden unwissenschaftlichen Absolutismus angreifend wirken – für Vertreter desselben. Ist nachvollziehbar ärgerlich, wenn die eigene Hypothese vom Dogmatismus der Wissenschaft [ohne Demaskierung] nicht mehr haltbar ist, obwohl diese doch zu den eigenen Dogmen gehört…

  33. #33 Patrick
    Juni 2, 2009

    @ rolak:

    Alles schon einmal durchgekaut. Wissenschaft ist nicht dogmatisch, aber der Mensch ist es. Egal ob er Wissenschaftler ist, oder nicht. Punkt.

  34. #34 Ulrich Berger
    Juni 2, 2009

    @ Jörg Friedrich:

    Um einmal zum Text zurückzukommen…

    Latour beschreibt die unverständliche Ablehnung, die ihm von wissenschaftlicher Seite entgegenschlug: „Dass wir einen Gegenstand untersuchen, bedeutet nicht, dass wir ihn attackieren. Sind Biologen gegen das Leben, Astronomen gegen die Sterne, Immunologen gegen Antikörper? … Wenn Wissenschaftler, so dachte ich naiv, wirklich einen treuen Verbündeten haben, sind wir es, die Wissenschaftsforscher”.

    Ich glaube, “naiv” ist genau das richtige Wort. Denn die Ablehnung rührt nicht daher, dass die Wissenschaftler und ihre Wissenschaft plötzlich zum Untersuchungsgegenstand wurden, sondern daher, dass die postmoderne Fraktion der Science Studies in die Anmaßung verfallen sind zu konstatieren, dass wissenschaftliche Fakten nur soziale Konstrukte sind. Das bedeutet natürlich, dass diese “Fakten” nach Ansicht dieser Fraktion gar keine Fakten sind, sondern eben temporär als wahr angesehene aber im Grunde beliebige Behauptungen über die Natur.

    Und Latour weiß ganz genau, was das Problem ist und welche Rolle er selbst darin gespielt hat. Er hat es nämlich in klaren Worten selbst beschrieben, und zwar hier: https://criticalinquiry.uchicago.edu/issues/v30/30n2.Latour.html

  35. #35 Andrea N.D.
    Juni 2, 2009

    @Marc: Das mit dem “böse” war nur ein überspitztes Beispiel und ich lese den Grundgedanken sehr wohl in sämtlichen Texten hier. Und ich lese auch den Grundgedanken einer übergeordneten Ethik (über die Wissenschaft gestülpt), die selbstverständlich nur von einem “Oberphilosophen” kommen kann (nicht aus den Reihen der Wissenschaft selbst, das sind nämlich keine Menschen mit Ethik – hatte ich anderswo schon geschrieben). Und ich sehe bei immer wieder neuen vorgestellten wissenschaftlichen Ergebnissen keine Wiederholung, bei dem Aufgreifen irgendeines Themas (das mit dem Erdbeben war beispielhaft und dort habe ich die Vorgehensweise auch beschrieben) mit irgendeinem Autor, um immer wieder den Zeigefinger zu erheben, dass ja die Wissenschaft von unseren Steuergeldern lebt und doch auch nicht so richtig richtige Ergebnisse bringt, sehe ich jedoch sehr wohl eine systematische Wiederholung. Und irgendwann könnten wir dann ja alle sagen: Ja, das sehen/wissen wir auch alle – nächstes Thema?
    Ansonsten haben Ihnen Thilo Kuessner und Herr Berger fast alles schon geantwortet, was es zu Ihrem “Ach herrje, wieso wieder diese Aufregung?” zu sagen gibt. Nur eines noch: Die Diskussionen werden ja nicht nur von “Wissenschaftlern” angezettelt, sondern von speziell gesinnten Kommentatoren an den Haaren herbeigezogen. Dass sich von diesen auf diesem Blog nicht eindeutig distanziert wird, nimmt ihm irgendwie stark etwas von der Wissenschaftlichkeit, die auf Science Blogs ja eigentlich Grundvoraussetzung sein sollte? Und dann zu sagen: Ach, die ich rief die Geister werd ich nun nicht los, nachdem sie vorher gelobt und bestätigt wurden?

  36. #36 Jörg Friedrich
    Juni 2, 2009

    @Ulrich Berger: Ich kann wirklich nur immer wieder empfehlen, Latour selbst zu lesen. Wenn Sie z.B. einmal die Studie „Bodenstichproben aus dem Urwald am Amazonas“ (Kapitel 2 der „Hoffnung der Pandora“) lesen würden, würden Sie schnell bemerken, dass „Konstruktion von Fakten“ nichts „beliebiges“ ist – im Gegenteil. (Entschuldigen Sie bitte, aber Sie verwenden dieses Konzept auf eine Weise, die mich an wissenschaftliche Laien erinnert, die zum ersten Mal vom „gekrümmten Raum“ lesen, diesen Begriff in seiner alltäglichen Bedeutung auffassen und sich darüber beschweren, was für einen Unsinn sich die Wissenschaftler da ausgedacht haben.) Und Sie würden bemerken, dass Latour schon immer eine selbst-kritische Einstellung zu seinen eigenen Studien hatte, dass er die Konstruiertheit der von ihm selbst dargestellten Fakten immer im Blick hatte: „Und ich selbst, zu nichts nütze, mit schlenkernden Armen, unfähig, das Profil eines Horizonts zu erkennen? Bin ich nicht noch viel exotischer, wenn ich aus der harten Arbeit meiner Informanten jene Minimalbedingungen einer Philosophie der Referenz zu erheben versuche, die lediglich meine Kollegen in Paris, Kalifornien oder Texas interessieren?“ … „Meine Schemata sind weder Diagramme noch Karten. Meine Fotos transportieren nicht so wie die Inskriptionen von Armand den Boden von Boa Vista. Meine empirische Philosophie re-repräsentiert ihre Beweise nicht auf die gleiche Weise wie der Diskurs meiner Freunde, der Pedologen. Meine Behauptungen sind nicht so gut zurückverfolgbar dass sie es dem Leser erlauben würden, zum Terrain zurückzukehren.“

    Schließlich würden Sie wahrscheinlich bemerken, dass Latour dem „Wissenschaftskrieg“ schon lange ablehnend gegenüberstand (der von Ihnen verlinkte Artikel war bereits Gegenstand der Diskussion bei „Science Wars Reloaded“ bei WeiterGen – ich habe bereits dort etwas zu dem Text gesagt.)

    Im Kapitel 7 der „Hoffnung der Pandora“ (Die Erfindung des Kriegs der Wissenschaften) vergleicht er diesen Krieg mit dem Sokrates-Kallikles-Konflikt in Platons Gorgias-Dialog und endet: „Zwei schwache, nackte und arrogante Männer auf der einen Seite; und auf der anderen die Stadt von Athen, einschließlich Frauen, Kindern und Sklaven. Der Krieg von zweien gegen alle, der merkwürdige Krieg von zweien, die uns glauben machen wollen, ohne sie würde der Krieg aller gegen alle ausbrechen.“

  37. #37 Geoman
    Juni 2, 2009

    Wie es um das Disskusionsklima auf Scienceblogs inzwischen bestellt ist, zeigt sich darin, dass meiner folgender sachlicher Diskusionsbeitrag mit einer fadenscheingen Begründung von Jörg Rings auf seinem Blog umgehend gelöscht wurde. Hier scheint “Latours Hoffnung” vergeblich und illusionär, denn hier wird mit Büchsen scharf auf jeden der Wissenschaft einer kritischen Betrachtung unterzieht, scharf geschossen, statt auf dem Boden der Büchse eine (gemeinsame) Hoffnung zu suchen.

    vgl: https://www.scienceblogs.de/diaxs-rake/2009/06/diskussionsthread-homoopathieakupunktur.php#comment39641

    “”””Sil schrieb:

    “Magengeschwüre werden durch Bakterien ausgelöst. Die moderne Tripeltherapie (zwei Antibiotika, ein Protonenpumpenhemmer) führen zum Ausheilen.
    Dafür gab es einen Nobelpreis.”

    Die Geschichte der Entdeckung des Helicobacter-Bakteriums als Ursache für Magenschleimhautentzündungen, Magengeschwüren und Magenkrebs ist nun wirklich kein Ruhmesblatt für die Schulwissenschaft. Sie zeigt, dass der wissenschaftliche Fortschritt nicht kumulativ ist, sondern dass wissenschaftliche Dogmen oder auch Mythen ein erstaunliches Beharrungsvermögen gegen experimentelle Evidenzen haben.

    Von einer (evidenzorientierten) wissenschaftlichen Methode, die den wissenschaftlichen Fortschritt garantiert, zu reden, ist reiner Wissenschaftsaberglauben. Im vorliegenden Fall wurden die beiden Forscher, die das Bakteriums als Ursache identifiziert hatten, jahrelang verhöhnt und lächerlich gemacht: Der arrogant-verbockte Mainstream sprach von “wilden Behauptungen, die die Forschungsarbeit auf diesem Sektor um Jahre zurückwerfen” würden.

    Um den wütenden Mainstream ‘milde’ zustimmen, mussten die Wissenschaftler in nicht ungefährlichen Selbstversuchen, Indizien vorlegen, die nicht mehr wegdiskutiert und lächerlich gemacht werden konnten. In einem offeneren, pluralistischen, weniger an “rationale Lehrbuch-Evidenzen” glaubenden Wissenschaftsklima hätte sich die Entdeckung Jahre vorher durchsetzen können und Hunderte von Patienten wäre erspart geblieben, dass ihnen aufgrund von falschen Therapien ihre Mägen verstümmelt wurden.

    Das angeführte Beispiel zeigt, dass der wissenschaftliche Fortschritt nicht rational, sondern eher planlos und auch zweideutig ist, denn nachdem sich das neue Helicobacter- bzw. Keim-Paradigma endlich durchsetzen konnte, schlug die Geschichte ins Gegenteil um, weil dann das alte Paradigma verteulfelt wurde. Dieses besagte, dass die Ursache für Gastritis in der Übersäuerung des Magens durch Stress oder falscher Ernährung liegt. Und dass ist sicher auch nicht völlig falsch, zumindest nicht so verkehrt, wie allgemein plötzlich vom neuen Mainstream behauptet wurde.

    Gegen solcherlei irrationale Ausschläge hilft nur ein offeneres reflektiertes Wissenschaftsklima und ein (schmerzlicher) Abschied von dem Aberglauben an “die wissenschaftliche Methode”, wie er hier auf vielen Blogs fröhliche Urständ feiert und von dem ich bisher annahm, dass er längst überwunden sei… bis ich von vielen Science Blogs eines Besseren belehrt wurde…”””

  38. #38 beka
    Juni 2, 2009

    @Geoman

    Machen Sie sich nichts draus. Die Einstellungen einiger Diskutanten zeigen, dass man Erfahrung nicht lernen kann. Man muss sie selber machen..

    Gerade unter Wissenschaftlern werden Auseinandersetzungen erbittert geführt: Eine Hackordnung, die auf menschlichen Problemen basiert.

    Ein Spruch unter Erfindern lautet: Erst wird man belächelt, dann bekämpft, anschließend kopiert.

  39. #39 aetiology
    Juni 2, 2009

    Die Entdeckung von H. pylori als Ergebnis eines planlosen Wissenschaftsprogramms zu beschreiben zeigt schon von einer ziemlich böswilligen Unwissenheit. Aber verständlich für einen Kreationisten.

  40. #40 Thilo Kuessner
    Juni 2, 2009

    Was kann man denn nun aus Latours Arbeit über Einstein und/oder die Relativitätstheorie lernen?
    (Und antworten Sie mir bitte nicht, ich sollte dieses oder jenes Kapitel in Latours Buch lesen. Das ist Ihr Thema, über das Sie hier einen langen Artikel geschrieben haben – da sollten Sie dann wohl auch in der Lage sein, den Inhalt zu erklären.)

  41. #41 Geoman
    Juni 2, 2009

    aetiology schrieb:

    “Die Entdeckung von H. pylori als Ergebnis eines planlosen Wissenschaftsprogramms zu beschreiben zeigt schon von einer ziemlich böswilligen Unwissenheit. Aber verständlich für einen Kreationisten.”

    Nicht in erster Linie die Entdeckung, sondern vor allem die jahrelange Verweigerung der Anerkennung der Entdeckung spricht für ein “planloses Wissenschaftsprogramm”. Die Entdecker mussten sich ja quasi mit ihrer Entdeckung selbst ‘vergiften’, also ihr Leben gefährden, um das herrschende Lehrbuchdogma in Knie zu zwingen.

    An Ihrer (und auch von anderer Seite hier auf Scienceblogs schon öfters vorgebrachten) Bemerkung, dass meine “böswillige Unwissenheit” davon herrühre, dass ich Kreationist sei, stört mich nur das Schubladendenken. Ich diskutiere – wenn sich die Gelegenheit dazu bietet – gerne mit Kreationisten, weil ich sie als verständige Kenner der Evolutionstheorie kennengelernt habe, wie z. B. Christoph Heilig, Dr. Reinhard Junker, Prof. Dr. Siegfried Scherer und insbesondere Dr. Wolf-Ekkehard Lönnig.

    Ich selbst stehe aber und habe dies an verschiedenen Stellen auch schon dokumentiert, dem Schöpfungsglauben reserviert und distanziert gegenüber.
    Im Laborjournal – ein auch für Sie sicherlich unverdächtiges – Service-Magazin für Medizin und Biowissenschaften konnte man vor einiger Zeit folgendes über mich lesen:

    »Auf [Geomans] Website ist wenig Religiöses zu finden. [Geoman] ist kein Kreationist, sondern ein Rebell.«

  42. #42 Thilo Kuessner
    Juni 2, 2009

    @ geoman: Ich hab so’n bißchen den Faden verloren – was hat Ihre Rebellion jetzt gerade mit Latour zu tun?

  43. #43 Patrick
    Juni 3, 2009

    @ Thilo:

    Ich glaube das betraf nur seine Antwort auf die Pauschalisierung von aetiology.

  44. #44 Andrea N.D.
    Juni 3, 2009

    @Marc: Na, haben sich die Geister nach meinem letzten Kommentar (ausgenommen der Kommentare der Science blogger) nicht selbst übertroffen? Wie kommt’s, dass ausgerechnet hier eine “Aufregung” entsteht, die das Thema doch so gar nicht hergibt?

    @Jörg Friedrich: Bin sehr gespannt auf Ihre Antwort zum vorletzten Kommentar von Herrn Kuessner und möchte an dieser Stelle noch einmal darauf hinweisen (damit diese nicht wieder untergeht).

    @Ulrich Berger: Ich bin auch sehr gespannt auf Ihre Antwort und hoffe, dass Sie dem “naiven Nachplappern von Latour u.a.” etwas entgegensetzen können. Wie andere habe ich nämlich Latour nicht gelesen und habe es nach diesem Thread ehrlich gesagt auch nicht vor.

    @Jörg Friedrich: “Im Kapitel 7 der „Hoffnung der Pandora“ (Die Erfindung des Kriegs der Wissenschaften) vergleicht er diesen Krieg mit dem Sokrates-Kallikles-Konflikt in Platons Gorgias-Dialog und endet: „Zwei schwache, nackte und arrogante Männer auf der einen Seite; und auf der anderen die Stadt von Athen, einschließlich Frauen, Kindern und Sklaven. Der Krieg von zweien gegen alle, der merkwürdige Krieg von zweien, die uns glauben machen wollen, ohne sie würde der Krieg aller gegen alle ausbrechen.“
    Ich habe zwar Latour nicht gelesen, aber dafür Gorgias von Platon. Ich finde in diesem Dialog etwas ganz anderes und sehr viel mehr, als zwei mächtige (nackte?) alte Männer. Den Bezug zu dem Argument (Latour gegen Sience Wars) und der zitierten Stelle kann ich nicht folgen. Da Sie ja allen empfehlen, Latour zu lesen, haben Sie dieses Zitat sicherlich überprüft und geprüft? Inwiefern kann Platon wohl die ablehnende Haltung Latours gegen über den Science Wars belegen?

  45. #45 Jörg Friedrich
    Juni 3, 2009

    @Thilo Kuessner (23:14 Uhr)
    In meinem Artikel geht es um die “Hoffnung der Pandora”, nicht um den Relativity-Artikel. Den haben Sie (über den Sokal-Link) ins Spiel gebracht. Vielleicht erklären Sie mal, welchen Sinn Ihre ersten drei Verlinkungen unter meinem Text haben und was sie mit der “Hoffnung der Pandora” zu tun haben. Sie haben auch noch nicht auf die Frage reagiert, warum Sie den (von Ihnen selbst verlinkten) Dirk-Becker-Text nicht als Beleg verstanden haben, dass Latour “kompetente wissenschaftsphilosophische Bücher” schreibt.

  46. #46 Thilo Kuessner
    Juni 3, 2009

    Nun ja, ich hatte den Artikel so verstanden, daß hier postuliert werden soll, es sei für Wissenschaftler nützlich und interessant, sich mit Latours Werk zu beschäftigen. Und diese These würde ich jetzt gerne an ein paar Beispielen erläutert haben. Ob Sie das jetzt anhand der semiotischen Studien zur Relativitätstheorie oder anhand irgendwelcher anderer Arbeiten von Latour erklären, ist mir eigentlich egal.

    (Im Text von Dirk Becker gng es übrigens nicht direkt um Wissenschaftsphilosophie.)

  47. #47 Geoman
    Juni 3, 2009

    Thilo Kuessner schrieb.

    “@ geoman: Ich hab so’n bißchen den Faden verloren – was hat Ihre Rebellion jetzt gerade mit Latour zu tun?”

    Erstens zeigt die Zensur des Kommentars auf Jörg Rings Blog “Diax’s Rake” wie leicht man hier zum Rebell wird. Man braucht nur eine, nicht unbedingt glanzvolle Episode aus der Naturwissenschaftsgeschichte anzuführen und schon wird man bezichtigt, “antiwissenschaftliche Ressentiments” zu verbreiten. Ich kann in meinem Kommentar aber beim besten Willen keine “Rebellion” und keine “antiwissenschaftlichen Ressentiments” entdecken, zumal die Geschichte weder neu noch ein Knaller ist, weil sie in vielen Veröffentlichungen gut dokumentiert und aufgearbeitet ist.

    Zweistens war die alternative Einstellung des Kommentars auf diesem Blog zunächst einmal eine ärgerliche Verlegenheitslösung. Der inhaltliche Bezug dünn. Jörg Friedrichs Beitrag hat den Titel “Latours Hoffnung”. Den Hinweis auf die Zensur meines Kommentars auf dem Blog eines Hardecore-Naturwissenschaftlichers ist da eher ein Beispiel für einen Beitrag mit dem Titel “Latours vergebliche Hoffnung”. Ganz wohl war mir daher zunächst nicht dabei, weil ich in Kauf genommen habe, Jörg Friedrich hier zusätzlichen Ärger zu bereiten, in dem ich seinen Blog zur Plattform einer Auseinandersetzung gemacht habe, die sich eigentlich auf einem anderen Blog abgespielt hat.

    Drittens scheint mir die spontane Einstellung meines Kommentars, die eben ursprünglich eine ärgerliche Verlegensheitslösung war, im Nachhinein hier gar nicht so verkehrt zu sein, weil das von mir dokumentierte Beispiel zeigt, dass experimentelle Evidenz und Anerkennung dieser Evidenz durch den Mainstream zwei ganz verschiedene Dinge sind. Um den wissenschaftlichen Forschritt ist es also nicht so gut bestellt, wie hier von den Hardcore-Naturwissenschaftlern immer wieder suggeriert und behauptet wird. Schon gar nicht ist er ein experiment- oder methodengesteuerter Automatismus .

    Es lohnt sich daher, so wie Latour oder Jörg Friedrich das z. B. tun, über die Vorgehensweise von Naturwissenschaftlern, die naturwissenschaftliche Methode, den Fortschritt in den Naturwissenschaften oder die Art, wie die Naturwissenschaftler ihre ‘Gegenstände’ konstruieren, nachzudenken und zwar, wenn ein halbwegs offenes und tolerantes Diskussionsklima herrscht, durchaus zum beiderseitigen Gewinn.

  48. #48 Jörg Friedrich
    Juni 3, 2009

    @Thilo Kuessner: In dem Dirk-Becker-Text geht es nicht um Wissenschaftsforschung? Ich frage mich ob es Ihnen entgangen ist, dass der Text eine Buchbesprechung ist, und zwar eine des “neuen Buch[s] von Bruno Latour …, das die mittlerweile beachtliche Forschungstradition der so genannten social science studies erläutert, auf den Punkt bringt und noch einmal ein erhebliches Stück weitertreibt”.

    Die Frage, ob es für Wissenschaftler nützlich und interessant ist, sich mit Latour zu beschäftigen, muss jeder Wissenschaftler für sich selbst beantworten. “Im besten Falle” schrieb ich, würden Wissenschaftler Anregungen für Ihre Arbeit aus dem Lesen von Latour ziehen können. Der zentrale Punkt ist die Frage, warum es fast notgedrungen zu Missverständnissen zwischen Wissenschaftsforschern und Wissenschaftlern kommen muss – und Marc hat das in seinem Kommentar ja richtig aufgegriffen und ergänzt.

    Menschen, die mit Wissenschaft zu tun haben, ob sie Wissenschaftler, Laien, Politiker oder Journalisten sind, können in den Studien Latours erfahren, wie vorraussetzungsreich wissenschftliche Forschung ist, wieviele formende Eingriffe in den Forschungsgegenstand nötig sind, damit er untersucht werden kann, wieviele Transformationen er erfährt. Das kann für einen Wissenschftler Anregung sein, einmal zielgerichtet darüber nachzudenken, welche Vorraussetzungen ganz unterschiedlicher Art eingentlich in der eigenen Arbeit stecken, und wie viele Transformationen er selbst vornimmt. Vielleicht wird er dann auf ganz neue Möglichkeiten oder auch auf Schwächen der eigenen Arbeit aufmerksam – oder er gewinnt Veständnis dafür, warum es so schwer ist, Laien den Sinn seiner Arbeit und die Abgrenzung zu nicht-wissenschftlichen Welterklärungen zu vermitteln.

  49. #49 Ulrich Berger
    Juni 3, 2009

    @ Jörg Friedrich:

    würden Sie schnell bemerken, dass “Konstruktion von Fakten” nichts “beliebiges” ist – im Gegenteil.

    Mich brauchen Sie davon nicht zu überzeugen, ich weiß das. Aber das Problem ist, dass einige Vertreter des Sozialkonstruktivismus ein paar Kilometer über das Ziel hinausgeschossen sind und behauptet haben, dass die soziale Konstruktion von wissenschaftlichen Fakten impliziert, dass nicht nur der Weg auf dem man zu diesen Fakten gelangt oder die Tatsache, dass man sich überhaupt mit diesen Fakten beschäftigt, sozial (mit)bestimmt sind. Diese Leute haben konstatiert, dass die Fakten selbst deshalb soziale Konstrukte SIND. Das impliziert, dass Wissenschaftler in einem anderen kulturellen Umfeld eventuell zu ganz anderen Ergebnissen über dieselben naturwissenschaftliche Fragen hätten kommen können.

    Pointiert ausgedrückt, im Labor eines feministischen Kibbuz hätten die Wissenschaftler/innen für die Lichtgeschwindigkeit vielleicht einen Wert von 200.000 km/s “sozial konstruiert”.

    Das ist natürlich pervertierter Sozialkonstruktivismus, da müssen wir uns hoffentlich nicht streiten. Aber es ist das, was einige “Intellektuelle” triumphierend als Resultat des “strong program” ausweisen. Dass das viele Wissenschaftler auf die Palme treibt, ist ja wohl verständlich. Latour ist hier nicht unmittelbar schuldig, aber es sind quasi seine intellektuellen Enkel, die da ihr Unwesen getrieben haben. Und ich glaube, das weiß er sehr genau.

  50. #50 Thilo Kuessner
    Juni 3, 2009

    Menschen, die mit Wissenschaft zu tun haben, ob sie Wissenschaftler, Laien, Politiker oder Journalisten sind, können in den Studien Latours erfahren, wie vorraussetzungsreich wissenschftliche Forschung ist, wieviele formende Eingriffe in den Forschungsgegenstand nötig sind, damit er untersucht werden kann, wieviele Transformationen er erfährt. Das kann für einen Wissenschftler Anregung sein, einmal zielgerichtet darüber nachzudenken, welche Vorraussetzungen ganz unterschiedlicher Art eingentlich in der eigenen Arbeit stecken, und wie viele Transformationen er selbst vornimmt. Vielleicht wird er dann auf ganz neue Möglichkeiten oder auch auf Schwächen der eigenen Arbeit aufmerksam – oder er gewinnt Veständnis dafür, warum es so schwer ist, Laien den Sinn seiner Arbeit und die Abgrenzung zu nicht-wissenschftlichen Welterklärungen zu vermitteln.

    Geht es nicht ein klein wenig konkreter? Mit solchen Allgemeinplätzen werden Sie mich jedenfalls nicht dazu überzeugen, Latours Bücher zu lesen.

  51. #51 beebeeo
    Juni 3, 2009

    @Geoman:
    Hier koennen Sie nachlesen warum es falsch ist zu behaupten: “Helicobacter-Bakteriums als Ursache für Magenschleimhautentzündungen, Magengeschwüren und Magenkrebs ist nun wirklich kein Ruhmesblatt für die Schulwissenschaft”

    https://www.csicop.org/si/2004-11/bacteria.html

    Sie konnten ihre Beobachtungen in 1984 nicht nur sehr gut veroeffentlichen (im Lancet) sondern wurden auch sehr stark zitiert und zwar schon kurze zeit nach der Veroeffentlichung. Nur 3 Jahre spaeter, nun wirklich kein langer zeitraum fuer medizinische Forschung, kamen schon Studien von anderen Gruppen die die Beobachtungen bestaetigen konnten.

  52. #52 Jörg Friedrich
    Juni 3, 2009

    @Ulrich Berger:
    Mit der Konstruktion von Fakten ist es so wie mit der Konstruktion einer Brücke: Wenn sie nicht stabil ist, wenn man sie nicht benutzen kann, weil sie versagt, sobald man sich praktisch auf sie verlassen will, wird sie wenig Akzeptanz finden. Das ändert nichts daran, dass sie Konstruktionen sind.

    Ich glaube nicht, dass Latour ihrer Formulierung, dass “nur der Weg auf dem man zu diesen Fakten gelangt oder die Tatsache, dass man sich überhaupt mit diesen Fakten beschäftigt, sozial (mit)bestimmt sind” zustimmen würde. Das Problem liegt in der Doppeldeutigkeit des Begriffs “Fakt” der auch in ihrer Formulierung mitschwingt. “zu Fakten gelangen” – dass ist Produktion, Erzeugung. Der Fakt ist das, was der Wissenschftler erzeugt hat – im allgemeinen vergegenständlicht auf Papier. Man zeigt auf eine graphische Darstellung und sagt “Da sind die Fakten.” oder “Die Fakten liegen auf dem Tisch.” Auf dem tisch liegt aber nicht der Urwald vom Amazonas, sondern eine Zeichnung eines Bodenprofils. “sich mit Fakten beschäftigen” das kann allerdings bedeuten, sich mit dem Urwald am Amazonas beschäftigen (es kann auch bedeuten, sich mit dem Diagramm zu beschäftigen).

    Latours Studien haben nun ergeben, dass die Wissenschaftler sich meist mit Repräsentationen beschäftigen, nicht mit Urwäldern, sondern mit Zeichnungen – und dass sie dazu jede Menge bereits vorher erstellter Repräsentationen brauchen (z.B. Farbtäfelchen, Landkarten) Sie benötigen Repräsentationen um repräsentationen zu erstellen, über die sie dann sprechen. Andere verwenden wieder diese Repräsentationen um eigene Repräsentationen zu erstellen. das ist die soziale Konstruktion der Fakten.

    Wenn nun jemand tatsächlich einen Fakt konstruiert, der für andere nicht brauchbar ist, dann wird dieser nicht als Repräsentation für andere Konstruktionen verwendet werden können, und somit als Fakt gar nicht existieren. Ich höre im Übrigen immer wieder, dass es Konstruktivisten gibt die behaupten, eine fenistische Wissenschftlerin würde vielleicht eine andere Lichtgeschwindigkeit konstruieren – wirklich begegnet ist mir ein konstruktivistischer Text mit einer solchen Behauptung noch nicht.

    @Thilo Kuessner: Ich hab noch mal nachgeschaut, aber in der Beschreibung “Über dieses Blog” steht nicht “Hier wird Thilo Kuessner davon überzeugt, Latour-Bücher zu lesen.”

  53. #53 beebeeo
    Juni 3, 2009

    Mit “Sie” meine ich natuerlich Warren und Marshall. Ich moechte mich auch dafuer entschluldigen dass Ich mit dazu beitrage dass die Diskussion vom Thema des eigentlichen Blogbeitrags abschweift. Ich sehe aber in einigen Kommentaren ein Misverstaendniss der Wissenschaft zu sehen ist das man nicht einfach so stehen lassen sollte. Die jetzige Wissenschaft ist vielleicht nicht perfekt aber es ist ein bisschen wie mit der Demokratie.
    Beide Systeme sind nicht perfekt aber sie sind das Beste was wir haben und Wahrscheinlich das beste was moeglich ist, wenn wir in betracht ziehen das Wissenschaftler, wie Politiker auch nur Menschen sind.

    @rolak: Genau meine Meinung.

    @Jörg Friedrich: Ueber den Blogbeitrag wuerde Ich gerne kommentieren aber Ich fuehle mich nit vertraut genug mit dem Thema um wirklich etwas beizutragen. Ich wuerde mich aber Thilo’s Frage anchliessen. Was ist es denn genau was wir sehen wuerden wenn Wir durch das Fernglas schauen wuerden?

  54. #54 Thilo Kuessner
    Juni 3, 2009

    Ich hab noch mal nachgeschaut, aber in der Beschreibung “Über dieses Blog” steht nicht “Hier wird Thilo Kuessner davon überzeugt, Latour-Bücher zu lesen.”

    Was bitte ist dieser Artikel sonst, wenn nicht eine Werbung dafür, das Buch von Latour zu lesen.

    Es ist, mit Verlaub, etwas albern, hier alle paar Tage irgendwelche Thesen ins Netz zu stellen, dann aber auf die Frage nach Begründungen jedesmal wortreich und spitzfindig zu begründen, warum genauere Begründungen nicht notwendig sind. Ich weiß beim besten Willen nicht, was man aus diesen Diskussionen lernen soll.

    Die Frage, WARUM man Latours Buch lesen soll und WAS man aus ihm lernen kann, ist doch wohl eine sehr natürliche und offensichtliche Frage als Reaktion auf den Artikel. Da muß man jetzt doch nicht mit irgendwelchen Spitzfindigkeiten oder Polemiken antworten, sondern kann einfach ein paar Beispiele bringen. Es geht ja gar nicht darum, ob diese Beispiele mich überzeugen oder nicht. Es wäre einfach interessant zu erfahren, was die Dinge sind, die Sie persönlich aus Latours Buch gelernt und mitgenommen haben.

  55. #55 Marc
    Juni 3, 2009

    Ich selbst habe Latours “Hoffnung der Pandora” vor einigen Jahren ehrlicherweise mit Gewinn gelesen. Ich bekomme keine Provision von Suhrkamp und mir ist es eigentlich auch gleichgültig, ob die Diskutanten hier zur Unibibliothek marschieren und dann mal 1-2 Kapitel Latour im Original lesen.

    In meinen Augen hat Jörg Friedrich aber durchaus eine Antwort darauf gegeben, welche Antworten bwz. Perspektiven Latour u.a. eröffnet.

    Latours Studien haben nun ergeben, dass die Wissenschaftler sich meist mit Repräsentationen beschäftigen, nicht mit Urwäldern, sondern mit Zeichnungen – und dass sie dazu jede Menge bereits vorher erstellter Repräsentationen brauchen (z.B. Farbtäfelchen, Landkarten) Sie benötigen Repräsentationen um repräsentationen zu erstellen, über die sie dann sprechen. Andere verwenden wieder diese Repräsentationen um eigene Repräsentationen zu erstellen. das ist die soziale Konstruktion der Fakten.

    Die Erwartungshaltung, daß hier Latours Werk in allen Einzelheiten referiert wird, halte ich persönlich für überzogen.

  56. #56 Andrea N.D.
    Juni 3, 2009

    @Jörg Friedrich@Thilo Kuessner: Einer spricht von WissenschaftsPHILOSOPHIE, einer von WissenschaftsFORSCHUNG. Ist das dasselbe?
    @Marc: “Menschen, die mit Wissenschaft zu tun haben, ob sie Wissenschaftler, Laien, Politiker oder Journalisten sind, können in den Studien Latours erfahren, wie vorraussetzungsreich wissenschftliche Forschung ist, wieviele formende Eingriffe in den Forschungsgegenstand nötig sind, damit er untersucht werden kann, wieviele Transformationen er erfährt. Das kann für einen Wissenschftler Anregung sein, einmal zielgerichtet darüber nachzudenken, welche Vorraussetzungen ganz unterschiedlicher Art eingentlich in der eigenen Arbeit stecken, und wie viele Transformationen er selbst vornimmt. Vielleicht wird er dann auf ganz neue Möglichkeiten oder auch auf Schwächen der eigenen Arbeit aufmerksam – oder er gewinnt Veständnis dafür, warum es so schwer ist, Laien den Sinn seiner Arbeit und die Abgrenzung zu nicht-wissenschftlichen Welterklärungen zu vermitteln.”
    Ich habe jetzt lange zielgerichtet – diesmal mit Latour – nachgedacht, aber irgendwie habe ich nichts Neues erfahren. Wenn das die These des Autors – gestützt von Latour – ist, was ist daran anders als ein bisschen Variation zu Thesen in den anderen Artikeln? Und es ist alles ein bisschen arg oberflächlich – was genau bedeuten denn diese Transformationen? Und wenn wir mit Transformieren fertig sind, woher weiß der Autor (oder Latour?), dass dies dem Wissenschaftler nicht schon seit Jahren bewusst ist (nochmals: Wissenschaftler sind auch Menschen!). Gibt es Beispiele dafür, dass ein Wissenschaftler komplett voraussetzungsfrei und blindlings losgeforscht hat? Widerspricht das nicht schon der wissenschaftlichen Methode per se? Und dem Menschsein, dem menschlichen (philosophischen) Fragen? Und gehört die Methode nicht zur Wissenschaft, um Wissenschaft zu sein (in Abgrenzung zu z. B. den Pseudowissenschaften)?
    Ich erwarte als Philosoph als erstens eine allumfassende REFLEXION von kritisierenden Philosophen. Das ist die erste Voraussetzung der Philosophie. Wenn diese bereits fehlt, kann schlecht über die angeblich fehlenden Wissenschaftsreflexion kritisiert werden. Deutlicher: Die Reflexion des kritisierenden Philosopohen fehlt bereits, sofern er sich nicht einer möglichen Reflexion des Wissenschaftlers bewusst ist. Dies würde ich dann nur als philosophische Arroganz bezeichnen.
    @Jörg Friedrich: Ich warte noch auf den Zusammenhang zwischen Platon und ablehnende Haltung Latour gegenüber Science wars (zunächst muss erst einmal geklärt werden, was eigentlich eine “ablehnende Haltung gegenüber den Science Wars” bedeutet: Ist er jetzt konstruktivistisch veranlagt oder verteidigt er die Wissenschaftler gegen die Science war -Anstifter?)

  57. #57 Jörg Friedrich
    Juni 3, 2009

    @beebeeo:
    Thilo Kuessner fragt ja immer wieder nach Latours Relativity-Text, von dem Sokal in dem von Thilo Kuessner verlinkten Text schreibt. Das war hier nicht mein Thema, ich hatte nur darauf hinweisen wollen, dass man Latours Text falsch versteht, wenn man ihn als Beschreibung der relativitätstheorie auffasst. Und das steht, wie ich zitiert habe, schon im Abstract des Artikels.

    Ich hatte auch schon in meiner Antwort an Ulrich Berger darauf hingewiesen, dass der Text Teil einer umfangreichen Debatte ist, Forschung auf dem Weg, deshalb ist es schwer, den überhaupt zu verstehen, wenn man z.B. das strong programe nicht kennt. Um in Latours Arbeit einzusteigen, sind Bücher wie “Die Hoffnung der Pandora” wesentlich besser geeignet. Trotzdem möchte ich versuchen hier ganz kurz die Bedeutung des Relativity-Textes zu skizzieren: Es geht in diesem text darum, ein Vokabular, eine Sprache zu entwickeln, der sich die Wissenschaftsforschung bei der Untersuchung wissenschaftlicher Texte bedienen kann. Wenn alle Fakten konstruiert sind, dann sind es auch die, die die Wissenschaftsforschung selbst behandelt. Das muss in der Sprache deutlich werden. Der Wissenschaftsforscher versucht deshalb, eher Spuren zu verfolgen als Fakten zu konstruieren.

    Vielleicht werde ich das doch einmal in den nächsten Tagen genauer ausführen, für alle, die es wirklich interessiert.

    @Andrea N.D. Wissenschftsforschung und Wissenschftsphilosophie sind nicht das selbe, aber sie haben einen großen Überlappungs- und Berührungsbereich. Wissenschaftsforschung hat fast immer einen soziologischen Anteil – aber es ist natürlich unklar, wo genau Philosophie aufhört und Soziologie anfängt.

    Latour selbst benutzt den Begriff Wissenschftsphilosophie eingegrenzt auf die sprachanalytische Wissenschaftsphilosophie und verwandte Disziplinen (Bedeutungstheorie, Erkenntnistheorie – Davidson, Quine und deren Vorfahren im wiener Kreis) – er verwendet die Begriffe also auch zur Abgrenzung.

    Zum Platon: Ich weiß, dass Sie wissen, dass man texte unterschiedlich lesen kann und ich weiß auch, dass Sie nicht überrascht sein werden, dass ein französischer Philosoph der gegenwart einen Text anders liest und anderes darin liest als Sie. Ich nehme an, dass Sie den Hegel auch anders gelesen haben als es Derrida tat. Latour hat im Gorgias-Dialog vor allem das Gemeinsame von Sokrates und Kallikles gesehen – Sie haben sich vermutlich vor allem mit den Unterschieden zwischen den beiden befasst.

    Ich bin auch sicher, dass Sie wissen, dass wir Platon nicht trauen dürfen, was die Standpunkte von Sokrates und Kallikles betrifft (Latour schreibt vom Strohmann-Kallikles) – auch das hat Latour natürlich berücksichtigt.

  58. #58 Geoman
    Juni 3, 2009

    @ Marc

    Ich habe das Buch vor einigen Monaten (allerdings nicht vollständig) auch mit Gewinn gelesen. Latour versteht es, amüsante Geschichten mit noch amüsanteren Wendungen über den naiven “Gestus des Aufklärers”, der ja auch auf Scienceblogs sein Unwesen treibt, zu schreiben. Sicherlich sind seine Geschichten geeignet, den ein oder anderen nicht vollständig verbohrten, evidenzorientierten Wissenschaftler ins Grübeln zu bringen oder sogar so zu verunsichern, dass er über seinen eigenen ‘Gestus’, mit dem er hier versucht, ‘Unwissende’ auzuklären oder zu bekehren, lachen oder doch zumindest lächeln muss.

    Und dann gibt es noch einen spannenden Grund, Latour zu lesen, nämlich den, herauszufinden oder zu erkennen, wo er ziemlich daneben liegt. Also wo er einfach zu wenig Hintergrundwissen von der Arbeit eines forschenden Naturwissenschaftlers hat, um Bedenkenswertes oder Irritierendes darüber zu schreiben. Das scheint mir z. B. dann der Fall zu sein, wenn er sich bei der Beobachtung von Forschern über alles Mögliche, was diese Forscher tun, wundert. Er wundert, sich aber nicht, wie er glaubt, weil er mehr weiß oder sieht, sondern aus Inkompetenz. Das von Jörg Friedrich kurz angesprochene Kapitel “Bodenstichproben aus dem Urwald am Amazonas” scheint mir in der Erinnerung ein solches Fallbeispiel zu sein, wo Latour schlicht überfordert ist und viel dummes Zeugs redet.

  59. #59 Jörg Friedrich
    Juni 3, 2009

    @Geoman:

    “Er wundert, sich aber nicht, wie er glaubt, weil er mehr weiß oder sieht, sondern aus Inkompetenz. Das von Jörg Friedrich kurz angesprochene Kapitel “Bodenstichproben aus dem Urwald am Amazonas” scheint mir in der Erinnerung ein solches Fallbeispiel zu sein, wo Latour schlicht überfordert ist und viel dummes Zeugs redet.”

    Das würde mich ja mal genauer interessieren.

    Das “Wundern” gerade in dem Kapitel, ist ja vor allem ein Be-Wundern, ein “Staunen”. Dass Latour irgendwo mehr zu wissen oder zu sehen glaubt, ist mir nicht aufgefallen. Woran könnte man das belegen?

  60. #60 Andrea N.D.
    Juni 3, 2009

    @Jörg Friedrich: Danke für die Erklärung des Unterschiedes zwischen Forschung und Philosophie. Vor allem die Abgrenzung von Latour muss hier deutlich herausgestellt werden. Er scheint nämlich doch einen differenten Begriff zu haben. Sprachanalytik bedeutet etwas ganz anderes als Wissenschaftsforschung – der soziologische Anteil erscheint da doch sehr gering.

    Ohne ins platonische Detail gehen zu wollen, verstehe ich den Zusammenhang (auch wenn ich eine unterschiedliche Lesart zwischen einem “gegenwärtigen” Franzosen und einem ? Deutschen voraussetze) zwischen den (Nicht)Gemeinsamkeiten von Sokrates und Kallikles und Latours (ja welche jetzt eigentlich?) Haltung zu den Science Wars nicht. Das war Ihr Schlussargument, das Sie gegen die Argumentation von Ulrich Berger anführten. Und auch wenn wir Ihren Part in dieser Diskussion weglassen, würde mich trotzdem brennend interessieren, wie Latour zu dieser seltsamen Interpretation kommt. Tatsächlich scheint er ja auch seine eigene Argumentation damit zu stützen? Und wenn Platon doch schon derartig dialektisch interpretiert werden kann (Strohmann-Kallikles), wieso nimmt er ausgerechnet diesen Bezug?
    Vielleicht sollten wir aber auch erst einmal klären, wer die nackten Männer sind. Ohne eine Zuschreibung wird auch die Haltung Latours gegenüber den Science Wars wohl nicht klar.
    “Ich nehme an, dass Sie den Hegel auch anders gelesen haben als es Derrida tat.” – Das sind aber viele Voraussetzungen. Dazu müssten Sie wissen, wie der verstorbene Derrida Hegel gelesen hatte und Sie müssten wissen, ob ich den Hegel überhaupt gelesen habe. Und dann müssten Sie noch die Unterschiede herausarbeiten. Eine sehr vage Annahme. Es wäre sicherlich spannend gewesen, Latours Illustrationen mit Hegel zu sehen – obwohl, die nackten Männer haben schon auch etwas (auch wenn es nur ein grober Übersetzungsfehler zu sein scheint).

  61. #61 Geoman
    Juni 3, 2009

    Jörg Friedrich schrieb:

    “Das würde mich ja mal genauer interessieren.

    Das “Wundern” gerade in dem Kapitel, ist ja vor allem ein Be-Wundern, ein “Staunen”. Dass Latour irgendwo mehr zu wissen oder zu sehen glaubt, ist mir nicht aufgefallen. Woran könnte man das belegen?”

    Vielleicht hätte ich besser formulieren sollen: Wenn Latour mehr über die Arbeit von Bodenkundlern wissen würde, dann hätte er nicht soviel ‘dumm’ herumgestaunt und interpretiert. Textbelege werde ich bei sobald wie möglich nachreichen. Da ich mir das Werk damals ausgeliehen hatte, muss ich es mir erst wieder besorgen.

    beebeeo schrieb:

    “Sie [Marshall und Warren] konnten ihre Beobachtungen in 1984 nicht nur sehr gut veroeffentlichen (im Lancet) sondern wurden auch sehr stark zitiert und zwar schon kurze zeit nach der Veroeffentlichung. Nur 3 Jahre spaeter, nun wirklich kein langer zeitraum fuer medizinische Forschung, kamen schon Studien von anderen Gruppen die die Beobachtungen bestaetigen konnten.”

    ‘Sehr gut veröffentlichen’, sieht anders aus: Nachdem es Marshall und Warren in 1982 durch einen dummen Zufall (!) gelungen war, die Magenkeime zu kultivieren, konnten sie in 1983 ihre Entdeckung in Leserbriefen (!) in der Medizinzeitschrift “Lancet” bekanntmachen. Im Folgejahr konnte sie ihre Ergebnisse auf einem Medizinkongress vorstellen. Der Chef-Gastrologe David Graham vom Medical Center in Houston (Texas) beschrieb seine damalige Meinung zu den Untersuchungsergebnissen wie folgt:

    “Da war ein verrückter Kerl, der wilde Behauptungen in die Welt setzte. Es schien mir so, als ob er gerade daran war, die Forschungsarbeit auf diesem Sektor um Jahre zurückzuwerfen…”

    Interessant an dem Kommentar ist, dass man offensichtlich “Quatsch”, der ja hier meistens mit esoterisch-naturmedizinischen Vorstellungen gleichgesetzt wird, gar nicht so einfach von Nobelpreis-verdächtigen Arbeiten unterscheiden kann. Immerhin hat der Gastrologe Graham damals laut späterer Bewertung der Royal Society (London) “eine der radikalsten und wichtigsten Wenden der vegangenen 50 Jahre in der Wahrnehmung eines Krankheitsbildes” als Spinnerei abgetan.

    Für die auf ihren Vortrag folgende Veröffentlichung in Lancet (ihre erste große Publikation) mussten die Forscher große Hürden überwinden, weil sich partout kein Rezensent finden konnte, der die Arbeit als wichtig und interessant einstufte.

    Laut dem Werk “Pathologie” von W. Remmele (Hg.) ist man den Magenkeinem übrigens schon seit dem Ende des 19. Jahrhundert auf der Spur. In dem Buch gibt es eine Abbildung zur Entdeckungsgeschichte der Keime, die folgende bezeichnende Überschrift hat:

    “Entdeckt – vergessen – wiederentdeckt – neuerlich vergessen – endgültig entdeckt und seither ein ‘Renner’…”

    So also sieht der rational-kumulative Fortschritt in den Naturwissenschaften aus, der hier immer wieder beschworen wird…

  62. #62 Jörg Friedrich
    Juni 3, 2009

    Ich möchte mich hier auch einmalm zu dieser Nebendiskussion zwischen beebeeo und Geoman äußern: Mir zeigen solche “Fallbeschreibungen” vor allem immer wieder, dass man auf diesem Wege der Wahrheit kein Stück näher kommt, vor allem, wenn man die gefundenen “Belege” und “Zitate” auf Schemata wie “Mainstream” und “Schulwissenschaft” und deren Gegenstücke abbilden will. Beide Darstellungen sind in den Belegen und Zitaten (wahrscheinlich/möglicherweise) wahr, aber die Auswahl und Zusammenstellung ergibt jeweils ein falsches Bild.

    Man muss vielleicht auf diese Kategorien verzichten – das ist ja das, was die Franzosen versuchen, wenn sie nach Differenzen und Spuren suchen, wenn sie dekonstruieren. Das Problem ist nur: Wenn sie die Sprache gefunden haben, in der sie die Realität erfassen können, versteht sie keiner mehr.

  63. #63 Jane
    Juni 3, 2009

    Die Hoffnung des Bruno L. lässt sich knapp zusammenfassen: “Bitte glaubt nichts von dem Stuss, den ich all die Jahre über die “soziale Konstruktion” von wissenschaftlichen Fakten geschrieben habe. ”

    Kann man auch nachlesen:
    https://criticalinquiry.uchicago.edu/issues/v30/30n2.Latour.html

    Latour beschreibt hier, dass es ihm gehörige Angst einjagt, wenn Verschwörungstheoretiker, Extremisten und andere Wissenschaftsfeinde mit postmodern-sozialkonstruktivistischen Argumenten gegen fakten- und evidenzbasierte Wissenschaft agitieren.

    Ich zitiere:
    “Was I wrong to participate in the invention of this field known as science studies? Is it enough to say that we did not really mean what we meant? (…) Should we rather bring the sword of criticism to criticism itself and do a bit of soul-searching here: What were we really after when we were so intent on showing the social construction of scientific facts? Nothing guarantees, after all, that we should be right all the time. There is no sure ground even for criticism.”

    Sein Paradebeispiel ist übrigens das Vorgehen der Klimaskeptiker.

    An alle PoMo-Geschädigten: Der Artikel lohnt sich wirklich und ist ganz untypisch für Latour: sehr kurz und verständlich geschrieben 😉

  64. #64 Jörg Friedrich
    Juni 3, 2009

    Verehrte Jane, dieser Artikel ist nun schon mehrfach diskutiert worden und er ist keineswegs untypisch für Latour, weder inhaltlich noch stilistisch. Ich zitiere mich hier einfach mal selbst aus der WeiterGen-Diskussion:

    “Die darin formulierten Selbstzweifel ehren Latour und ich kann ihnen nur zustimmen. Dass nicht jeder Text, den man schreibt, explizit von den Selbstzweifeln spricht, die den Kritiker plagen, ist wohl verständlich und auch gut so, aber hin und wieder müssen sie ausgesprochen werden.

    Wichtig an dem Text ist auch, dass Latour hier explizit sagt, was eigentlich selbstverständlich ist: Wenn man in den Science Studies zu dem Ergebnis kommt, dass alle Fakten letztendlich Konstruktionen sind, dann gilt das natürlich auch für diese Erkenntnis selbst (die ja auch als Fakt konstruiert wurde).

    Wenn Latour die Fragen an die Science Studies so weit treibt dass er meint, diese hätten letztlich die Waffen für Klimawandel-Leugner und sogar für Terroristen geliefert, ist das bedenkenswert – allerdings müssten sich davon dann ebenso Internet-Technologen, Programmierer, Informatiker, Ingenieure und all die Naturwissenschaftler, die die Grundlagen der Waffentechnik und der Flugzeugtechnik geliefert haben, angesprochen fühlen.”

  65. #65 Ulrich Berger
    Juni 3, 2009

    @ Jörg Friedrich:

    Ich höre im Übrigen immer wieder, dass es Konstruktivisten gibt die behaupten, eine fenistische Wissenschftlerin würde vielleicht eine andere Lichtgeschwindigkeit konstruieren – wirklich begegnet ist mir ein konstruktivistischer Text mit einer solchen Behauptung noch nicht.

    Mir auch nicht, deswegen habe ich “pointiert ausgedrückt” geschrieben. Aber was Luce Irigaray über die Lichtgeschwindigkeit zu sagen hat, kommt dem schon ziemlich nahe. Bei Sokal/Bricmont findet sich eine Menge dazu.

    @ Jane:
    Der Artikel ist wirklich lesenswert – deshalb habe ich ihn auch weiter oben schon angesprochen und verlinkt. Wer Deutsch bevorzugt, kann sich hier den “Director’s Cut” ansehen: https://www.amazon.de/Elend-Kritik-Fakten-Dingen-Belang/dp/3037340215

  66. #66 Jane
    Juni 3, 2009

    @Jörg Friedrich. Sorry, aber das waren mir dann doch zu viele Kommentare hier, jeden konnte ich nicht lesen.

    Die PoMos wurden nicht nur von Sokal /Bricmont komplett entlarvt, jetzt bereut Latour sogar öffentlich. Warum man mit denen noch hausieren geht, verstehe ich nicht. Von Latour gibt es Zitate aus seinen “besten Zeiten”, da fragt man sich wie man solche intellectual impostures jemals ernst nehmen konnte. Aber die verlinke ich jetzt nicht, das hat bestimmt auch schon jemand getan 😉

  67. #67 beebeeo
    Juni 3, 2009

    Dieser Beitrag ist zwar etwas lang, aber er veranschauligt den Vorgang mit dem medizinische Wissenschaftler klinisch relevante Fakten erzeugen …
    @Geoman:
    “Letters” in wissenschaftlichen Zeitschriften sind bei weitem keine Leserbriefe. Damals waren die Letters vielleicht nicht peer-reviewed, wie es heute der Fall ist aber die Arbeit wurde immerhin veroeffentlich. Die eigentliche Veroeffentlich im Lancet kam einige Monate befor Marshall sich selbst infizierte.
    Jeder der schon mal versucht hat etwas in solchen high impact factor Journals zu veroeffentlichen weiss das es meistens viele Monate, nicht selten mehr als ein Jahr dauert bevor ein Artikel veroeffentlicht wird. Mit Kommentaren der reviewers zu kaempfen ist die Regel, nicht die Ausnahme.

    Zudem sind Mediziener oft besonders kritisch bevor sie neue Ergebnisse als relevant fuer die klienische Praxis ansehen. Das besondere an Marshall und Warren ist dass sie an fast allen Schritten der Endeckung und ausarbeitung klienischer Relevanz und Therapien beteiligt waren. Ausserdem so wie ich Interview mit Marshall und warren im Lancet lese, wurden sie primaer nicht von Wissenschaftlern sondern von Ihren klinischen Kollegen belaechelt.

    Dazu ein Zitat von David Graham den Sie selbst vorher zitiert haben(english verstehe hier ja wahrscheinlich alle): “There were two reactions to Marshall’s presentations says David Graham (VA Medical Center, Houston, Texas, USA): scientists were stimulated and several groups immediately started work on the ideas, but the medical community reacted against his perceived expectation that doctors would embrace the concept after only limited research.”

    Graham veroeffentlichte selbst in 1992 eine Studie mit 100 Patienten die erfolgreiche Behandlung mit Antibiotika bestatigte.

    Zwischen Warrens erster kultivierung von H. pylori und der Behandlung der Krankheit durch Antibiotika lagen gar nicht mal so ein langer Zeitraum. Es dauert halt neue Medikamente und neue Diagnoseverfahren in die Praxis zu bekommen. Das ist auch gut so denn Studien muessen reproduziert werden. Was waere denn passiert wenn vor einigen Jahren alle aufgehoert haetten die Masern impfung zu verwenden, nur wegen einer Veroeffentlichung im Lancet?

    Es ist naehmlich genau diese Vorgehensweise die einem den “rational-kumulative Fortschritt” ermoeglicht. Zunaechst skeptisch sein, aber dennoch versuchen zu bestaetigen oder zu wiederlegen.
    Ich gestehe ein das dass Marshall’s Selbstversuch diesen Vorgang etwas beschleunigt haben mag. Der Selbstversuch war aber mit Sicherheit nicht unbedingt notwendig.

    Im Nachhinein sagen vielleicht einige Kliniker das Sie schon frueher auf die Wissenschaftler haetten hoeren sollen aber das ist falsch. Es ist wichtig neuen Vorgehensweisen gegenueber kritisch zu sein und es ist unethisch Patienten ausserhalb einer klinischen Studie mit nicht erwiesenen Methoden zu behandlen.

    H. pylori ist dafuer ein Paradebeispiel. Nach der ersten Beobachtung wurden zunaechst weitere Beobachtungen gemacht, dann kleine Patienten studien, dann grosse Patientenstudien und erst dann, nach einigen Jahren wird das Verfahren in klienische Praxis uebernommen.
    Esoterisch-naturmedizinischer Quatsch unterscheidet sich bedeutend von diesen zunaechst als “Quatsch” betrachteten Beobachtungen.
    Nobelpreisverdaechtigen Quatsch von Eso-quatsch zu unterscheiden ist ja gerade die Arbeit der Wissenschaftler und das benoetigt harte Arbeit und dauert eben manchmal laenger als man denkt.
    Es kann es einfach nicht ab wenn einige Leute versuchen Eso-naturvorstellungen damit zu verteidigen das Wissenschaftler selbst andere Wissenschaftler ignoriert und belaechelt hat. Das nervige ist das meistens schlechte Beispiele verwendet werden, statt mit guten aussagekraeftigen Daten die Eso-naturvorstellungen zu verteidigen.
    Ich will Ihnen nicht unterstellen das das Ihre Absicht war, Geoman. Jedoch den von Ihnen so getauften “rational-kumulative Fortschritt in den Naturwissenschaften” mit einem so schlechten Beispiel einfach abzutun ist doch etwas lahm.

    PS. Wer zweifelt denn daran das Zufall auch eine Rolle spielen kann?

  68. #68 Ulrich
    Juni 4, 2009

    @ beebeeo:

    Da stimme ich Ihnen voll und ganz zu. Ich habe selbst das H. pylori Beispiel öfters verwendet um zu illustrieren wie vergleichsweise schnell anfangs unplausible Thesen in den Kanon der Wissenschaften aufgenommen werden, wenn nur die Daten stimmen. Ähnlich funktionierte das ja auch bei Einstein. Und das vergleiche man einmal mit der Geschichte der Homöopathie.

  69. #69 aetiology
    Juni 4, 2009

    Ein ähnliches Beispiel ist die Endosymbiontentheorie: Vor gut 100 jahren wurde erstmals vorgeschlagen, dass da die Chloroplasten im Zuge der Evolution in Pflanzenzellen eingewandert sind, da sich diese Organellen Eigenheiten mit frei vorkommenden Cyanobakterien teilen. Diese Meinung war gelinde gesagt eine Außenseiterposition, nur beschränkten sich deren Proponenten nicht darauf, beleidigt in der Ecke zu stehen und in Blogs über „verbohrten, evidenzorientierten Wissenschaftler“ zu hetzen. Vielmehr nutzten sie die vorhandenen Methoden um ihre Position zu untermauern. Besonders seit sich Lynn Margulis in den 70er jahren der Sache angenommen hatte, trudelten die Resultate aus unterschiedlichen Fachrichtungen ein: Das Chloroplasten, wie auch das Mitochondrienribosom ähneln von Größe und Chemikaliensensitivität dem von Bakterien, ebenso wie die Membranstruktur, ebenso wie das Protein-Processing. Schritt für Schritt baute sich ein Argument für eine Einwanderung von Bakterien in Proto-Mehrzeller Zellen auf. Heute gibt es kaum mehr Zweifler an der Endosymbiontentheorie, und das ist das Ergebnis von sinnvoller Forschung, nicht von Internet Trollerei.

    Geoman:
    Ich habe bisher immer angenommen, dass jemand der die Argumente von Kreationisten, die Rhetorik von Kreationisten und die Logik von Kreationisten anwendet, auch als ein Kreationist zu sehen sei. Aber wenn das Laborjournal Sie nur als einfachen Crank ansieht, werde ich dem nicht wiedersprechen.

  70. #70 Jörg Friedrich
    Juni 4, 2009

    @Jane: Der text ist, ich wiederhole es gerne, kein öffentliches bereuen, sondern ein selbstkritisches Fragen, wie Sie es in vielen Latour-Texten finden können (ich hatte das bereits zitiert). Sie werden das natürlich nicht bemerken können, wenn Sie nur Zitate von Sokal-Zitaten lesen.

  71. #71 beebeeo
    Juni 4, 2009

    @Joerg Friedrich:
    Danke dass Sie zu dieser Debatte kommentiert haben.

    Warum haben Sie hier denn nicht mal die Gelegenheit genutzt Ihre eigene Meinung zu auessern? Allerdings habe Ich mit folgendem Satz ein kleines Problem: “Beide Darstellungen sind in den Belegen und Zitaten (wahrscheinlich/möglicherweise) wahr, aber die Auswahl und Zusammenstellung ergibt jeweils ein falsches Bild.”

    Wie koennen zwei vollkommen gegensaetzliche Darstellungen gleichzeitig wahr sein? Entweder Warren und Marshall wurden zu unrecht zu lange ignoriert, oder nicht. Beides geht einfach nicht.
    Zudem moechte ich anmerken dass Sie zu Geoman’s ersten langen Kommentar hier nicht kommentiert.
    Besonders zu folgendem Satz wuerde Ich gerne Ihre Meinung hoeren:

    Geoman:”Gegen solcherlei irrationale Ausschläge hilft nur ein offeneres reflektiertes Wissenschaftsklima und ein (schmerzlicher) Abschied von dem Aberglauben an “die wissenschaftliche Methode”, wie er hier auf vielen Blogs fröhliche Urständ feiert und von dem ich bisher annahm, dass er längst überwunden sei… bis ich von vielen Science Blogs eines Besseren belehrt wurde…””” ”

    Besuchen Sie doch mal Geoman’s webseite und lesen Sie mal nach was er so von sich gibt. Das gerade jemand mit solchen Ansichten positives ueber Ihre und Latour’s Vorgehensweise zu sagen hat, finde Ich doch etwas suspekt.

    Warum nehmen Sie denn nicht einfach mal selbst Stellung zu diesem Thema ?
    Ich wuerde mir erhoffen dass Sie gegen Kreationisten (auch wenn diese das Attribut verneinen) eine kritische Stellung gegenueber einehmen wuerden. Ich nehme an es geht vielen anderen Lesern hier auch so.

    Ich lese Ihren Blog um etwas mehr ueber Wissenschaftsphilosophie zu lernen. Ich bin selbst ein “PhD student” und werde (hoffentlich) bald einen Doctor of Philosophy haben, auch wenn ich natuerlich kein Philosoph bin. Ich kann aber noch nicht wirklich verstehen ob ich von Wissenschaftsphilosophie tatsaechlich etwas nuetzliches lernen kann. Was kann ein Wissenschaftler denn gerade von Latour lernen? Seien Sie doch mal etwas konkreter.

  72. #72 Geoman
    Juni 4, 2009

    @Jörg Friedrich. Wahrscheinlich haben Sie Recht, dass man mit Begriffen wie „Mainstream“ und „Schulwissenschaft“ der Wahrheit kein Stück (oder dich zumindest wenig) näher kommt. Mit pauschalen Abqualifizierungen wie „Kreationist“, „Klimaleugner“ (wie steht es eigentlich um die Begriffe „Waldsterbens-“ oder „Magenkeimleugner?) oder Crank kommt man in der Sache allerdings auch nicht voran.

    Das Bild von einem rational-kumulativen Fortschritt in der Wissenschaft oder doch zumindest in richtiger harter Naturwissenschaft, das hier von vielen Kommentatoren so überaus so hartnäckig und gelegentlich sogar aggressiv verteidigt wird, ist doch eigentlich schon seit fast einem halben Jahrhundert insoweit obsolet, als das es nur noch für den normalwissenschaftlichen Forschungsbetrieb kennzeichnend ist. Gemeint ist damit nach Thomas S. Kuhn, ein Wissenschaftsbetrieb, der aufgrund gewisser Prämissen und Vorbilder, die im Rahmen eines bestehenden Paradigmas vorgegeben sind, auf bereits vielfach erprobte Weise, noch anstehende Problem zu lösen versucht.

    Sowohl bei der Entdeckung der Helicobacter-Bakterien als auch der Endosymbiose-Theorie (oder Symbogense) haben wir es aber nicht mit normalwissenschaftlichen Vorgängen zu tun, sondern solchen, die über viele Jahrzehnte geltende Paradigmen in Frage stellen. Und in solchen Situationen geht es im Wissenschaftsbetrieb immer ausgesprochen irrational und unruhig zu. Da wird ein braver pfiffiger Krankenhausarzt als „verrückter Kerl, der die Forschung um Jahre zurückwirft“ beschimpft, da haben brave Ehepartner der Forscher plötzlich eine größere Bedeutung als Laborergebnisse für den wissenschaftlich Fortschritt, weil sie die Forscher ermutigen, trotz des Unglaubens, der Kritik, der Skepsis oder auch dem Hohn, der ihnen entgegengebracht wir weiterzumachen und da werden ‚Cranks’, die in Selbstversuchen gefährliche Bakteriencocktails schlucken, Jahrzehnte später zu herausragenden Nobelpreisträgern.

    Und das einzige, was diese armen Kerle verbrochen hatten, war, dass sie sich nicht um das von allen führenden Gastrologen für wahr gehaltene Paradigma, das sich im Magen aufgrund des hohen Säuregehaltes kein Keime aufhalten, gekümmert haben, sondern es infragegestellt oder auch für falsch erklärt haben. Das erinnert mich übrigens an eine Geschichte, die über Aristoteles erzählt wird. Der hatte behauptet, dass Frauen weniger Zähne als Männer im Mund haben und weil Aristoteles so ein großer weiser Mann war, hat man es 2.000 Jahre für wahr gehalten und nicht für nötig befunden, es zu überprüfen.

    Kommen wir noch kurz zu der Geschichte mit Entdeckung der Endsymbiose oder Symbogenese, die auch kein Ruhmesblatt für die Wissenschaftsgeschichte ist.

    Bereits zu Beginn des 20.Jahrhundert hat der russische Gelehrte Konstantin Mereschkowsky einen epochalen Aufsatz über den symbiotischen Ursprung der Chloroplasten in pflanzlichen Zellen veröffentlicht. (Es gab ein oder zwei Vorläufer, die ähnliches behauptet hatten). Das Interesse an diese These erlahmte schnell, weil man sich mehr um den Zellkern kümmerte, weil es nicht mit dem graduellen Darwinschen Evolutionsmechanismus in Einklang zu bringen war und weil der damals führende Zellbiologe E. B. Wilson, Mereschkowsky’s Ideen rundweg als „unterhaltsame Fantastereien“ ablehnte und in seinem Lehrbuch disqualifizierte.

    Rund 60 Jahre später wurden die Ideen von der streitbaren Biologin Lynn Margulis wieder aufgegriffen. Auch die machte sich damit nur Feinde im Wissenschaftsbetrieb. Da führende Wissenschaftler selten bereit sind, ihre Meinung zu ändern, hätte sie eigentlich darauf warten müssen, dass diese Leute aussterben und andere jüngere , vielleicht flexibeler Forscher an ihre Stelle treten. Darauf wollte die clevere Margulis aber nicht warten und wandte einen Trick an, der ihr im Wissenschaftsbetrieb noch lange übel genommen wurde: Sie umging die herrschenden Autoritäten und brachte ihre Theorien (in Büchern) unmittelbar an die Öffentlichkeit. Der Evolutionstheoretiker W. Daniel Hillis kommentierte später: „Wenn es eine Sünde ist, Theorien an die Öffentlichkeit zu bringen, dann ist es eine doppelte Sünde, sie an die Öffentlichkeit zu bringen und auch noch recht zu haben.“

    Ja meine Damen und Herren, was hat der von ihnen so bejubelte normalwissenschaftliche Betrieb (also der sogenannte rational-kumulative wissenschaftliche Fortschritt) eigentlich dazu beigetragen, diese wertvolle Theorie zu befördern, statt sie wie geschehen, weit über ein halbes Jahrhundertlang zu ignorieren oder abzulehnen?

  73. #73 beebeeo
    Juni 5, 2009

    @geoman:
    aetiology hat im Prinzip deine Frage schon beantwortet.
    aetiology: “Besonders seit sich Lynn Margulis in den 70er jahren der Sache angenommen hatte, trudelten die Resultate aus unterschiedlichen Fachrichtungen ein: Das Chloroplasten, wie auch das Mitochondrienribosom ähneln von Größe und Chemikaliensensitivität dem von Bakterien, ebenso wie die Membranstruktur, ebenso wie das Protein-Processing. Schritt für Schritt baute sich ein Argument für eine Einwanderung von Bakterien in Proto-Mehrzeller Zellen auf. Heute gibt es kaum mehr Zweifler an der Endosymbiontentheorie, und das ist das Ergebnis von sinnvoller Forschung, nicht von Internet Trollerei.”

    Ich will es aber noch mal etwas deutlicher erklaeren: erst als genugend Daten angesammelt wurden wurde die Theorie nach und nach mehr und mehr akzeptiert. Das Wissenschaftler nicht unfehlbahr sind und einige entgegen neuer daten an alten Theorien festhalten moegen mag ja sein. Besonders wenn diese Daten aus neuen disziplinen kommen mit denen die etablierten auf einem Gebiet noch nicht ganz zurrechtkommen. Dennoch aber, nach harter Arbeit und der Ansammlung vor mehr und mehr Beobachtungen, wird eine Theorie akzeptiert. Gerade dass ist ja mit “rational-kumulativ” gemeint, oder nicht?
    Wass ich nicht verstehe ist, wie daraus folgt dass die Wissenschaft im grossen und ganzen NICHT nach diesen Prizipien vorranschreitet. Ich sehe hier einen non-sequitur von geoman.

    Auf die Helicobakter Geschichte brauch ich wohl nicht mehr weiter einzugehen. Das habe ich in meinem langen Kommentar oben schon ausgeschoepft. Wie geoman hier ernsthaft versucht seine Behauptung einfach nur wiederholt, Warren und Marshall waeren von der Wissenschaft nur ignoriert und beschimpft worden, ohne auf mein Kommentar einzugehen, ist mir ein Raetzel. Der Selbstversuch mit H. pylori war nicht ausschlaggebend fuer die Akzeptanz der Theorie.

    Ich frage mich ob geoman ein Beispiel einer Theorie nennen kann, die
    erstens:
    derzeit von einigen wenigen Wissenschaftlern befuerwortet wird, von der Mehrheit aber dogmatisch (das heist ohne gute Argumente) abgelehnt wird obwohl es vielversprechende Ergebnisse gibt und
    zweitens:
    die geoman fuer richtig haelt.
    Koenen Sie das Herr geoman ?

  74. #74 aetiology
    Juni 5, 2009

    Ich denke, dass größte Problem in dieser Diskussion um Wissenschaftsmethodik ist, dass sie von Personen betrieben wird, die vom aktiven Wissenschaftsbetrieb selbst keine Ahnung haben. Ein Geograph, der in die Felder von Medizin und Evolutionstheorie hineintappst und glaubt, er (und eine elitäre Gruppe ihm genehmer Cranks) könnte die Fehler aufzeigen, die zigtausende forschende Wissenschaftler übersehen oder bewusst verschweigen ist, schon ziemlich jämmerlich.

    Jeder Forscher kennt die „Bumps“ in seinem Gebiet, also die Stellen, an denen es unterschiedliche Meinungen, unterschiedliche Camps gibt, und jede Krankheit, jeder Signaltransduktionsweg, jeder biologische Entwicklungsschritt hat diese. Allerdings fußen die abweichenden Meinungen meist auf methodischen Unterschieden, und für einen Außenstehenden ist es schwer nachzuvollziehen, warum darüber gestritten wird, welche Zelllinie, welches Tiermodel oder welcher optische Nachweis in einer Situation angebracht wäre. Ebenso weiß jeder aktiv Forschende, dass er für seine Denkrichtung lobben muss, indem er versucht, Löcher in die Theorie seiner Konkurrenten zu schlagen. Das funzt allerdings nur im Rahmen sinnvoller Experimente; Forscher, die ihre große Klappe nicht mit experimentellen Daten untermauern können/wollen, werden innerhalb der eigenen research community auch als Querulanten angesehen und sukzessive ausgegrenzt (die Community hat nicht diese hohe Toleranz für Trolle, die in Internetforen gezeigt wird). In den meisten Fällen ist dann Ruhe, aber immer wieder taucht ein Michael Behe, ein Andy Wakefield oder ein Peter Duesberg auf, deren Ansichten gewissen Interessensgruppen genehm sind und in weiterer Folge politisch gelobbt werden. Als Wissenschafter stehst du dann etwas sprachlos daneben und siehst zu, wie die Ratten von Hammeln einem Flötenspieler nachlaufen, der Dinge erzählt, die von der betreffenden research community schon längst widerlegt wurden.
    Und ebenso sicher wie das Amen im Gebet, taucht dann ein Privatgelehrter mit großem Mitteilungsbedürfnis auf, der auf seiner Website eben diese Rattenfänger verteidigt, die harsche Orthodoxie der Wissenschaft anprangert und sich ein bisschen mehr Wärme und weniger Materialismus für diese Welt wünscht.
    Wäre ich ein wenig narzisstischer, würde ich das „aetiology’s law“ taufen

  75. #75 Jörg Friedrich
    Juni 5, 2009

    @beebeeo: Sie haben viele Fragen gestellt, von denen ich zwei zentrale zur sofortigen Beantwortung herausgreife, die anderen werde ich beim Schreiben meiner weiteren Texte berücksichtigen, vielleicht findet sich dann Stück für Stück die eine oder andere angemessene Antwort.

    “Wie koennen zwei vollkommen gegensaetzliche Darstellungen gleichzeitig wahr sein?”

    Die Wahrheit einer darstellung ist nicht unabhängig vom Kontext und von der Sichtweise dessen, der darstellt. Letztlich halten wir ja für wahr, was in sich plausibel ist und wovon wir den Belegen vertrauen. Da die soziale Wirklichkeit immer beliebig komplex ist, kann man zumeist auch Belege für unterschiedliche, auch widersprüchliche Thesen finden. Die Herausforderung ist m.E. nicht, sich für eine zu entscheiden, sondern mit der Widersprüchlichkeit solcher Darstellungen umzugehen.

    “Was kann ein Wissenschaftler denn gerade von Latour lernen? ” – Die Antwort auf diese Frage hängt mit der Antwort auf die erste Frage zusammen: Man kann von ihm lernen, dass man vertraute Dinge auch radikal anders auffassen kann – und dass das weder ein Welt- noch ein Wissenschaftsuntergang ist. Konkreter gebe ich es Ihnen nicht, weil das, was der einzelne da wirklich lernt, eben sehr von seinen bisherigen selbstverständlichen Annahmen abhängt – und die kenne ich nicht. Da rate ich dazu, es einfach mal auszuprobieren.

    Ihre letzte Frage an Geoman läuft übrigens m.E. ins Leere: Wir können – wenn überhaupt – solche Entwicklungen nur aus rückblickender Perspektive betrachten. Ich z.B. könnte Sie auf meinen Text “Inflation contra Ekpyrosis” hier im Blog verweisen – aber ich behaupte weder, dass die Ekpyrosis-Theorie richtig ist, noch, dass Sie sich (nicht) durchsetzen wird. Ob Argumente “gut” sind – genau das wird ja von den diskutierenden Wissenschaftlern z.B. immer sehr unterschiedlich gesehen, und es wird, wenn die Entscheidung für die eine oder die andere Theorie gefallen ist, noch einmal neu bewertet.

  76. #76 Jörg Friedrich
    Juni 5, 2009

    @aetiology: Sie beschreiben in Ihrem zweiten Absatz zunächst sehr schön die wissenschaftliche Wirklichkeit um dann aber sehr merkwürdige Schlüsse daraus zu ziehen. Würden Sie nich auch sagen, dass die Entscheidung, ob jemand ein “Querulant” oder nur ein “Querdenker” oder vielleicht gar ein “innovativer Forscher” ist von der community im laufe der Zeit ganz unterschiedlich gesehen werden kann? Dass die Wissenschft also solche “Querulanten” braucht, um sich weiter zu entwickeln?

  77. #77 aetiology
    Juni 5, 2009

    @ Jörg Friedrich
    Der Unterschied zwischen Wahnsinn und Genie definiert sich durch den Erfolg. Querdenker und Visionäre gibt’s viele, und das ist gut so. Steve Rosenberg am National Cancer Institute ist so ein Beispiel: Er behandelt seit Jahren Melanoma Patienten im Endstadion mit aggressiver, aber innovativer Immuntherapie, er zapft ihnen z.b. antigenpräsentierende Zellen ab, pulst diese in vitro mit Tumorantigenen und bringt sie wieder in Patienten ein. Der wichtige Punkt ist, dass jeder dieser Schritte unabhängig abgesichert ist: Seine Molekularbiologen haben den Mechanismus der Tumorantigenpräsentation beschrieben, seine Immunologen haben die Konditionen der Zellexpansion in der Zellkultur beschrieben, seine Onkologen haben den Zeitpunkt der Zellentnahme und Wiedereinbringung beschrieben. So radikal neu seine Ansätze waren, jeder Schritt auf dem Weg wurde experimentell erarbeitet und beschrieben. Dadurch unterscheidet sich ein Querdenker von einem Querulant. Letzterer sieht sein Scheitern selten als Fehler seiner eigenes Charakters oder seiner Arbeitsmethoden, sondern als einen Fehler seiner Umgebung, der Gesellschaft oder desjenigen, der sich gerade dafür anbietet. Es ist keine Schande zu scheitern; es ist eine Schande, sein Scheitern politisch zu framen.

    Auf Kongressen finde ich so 1 oder 2 Posters von Personen, die eine absolute Außenseitermeinung vertreten, die sich aber die Arbeit antun, weiterhin für ihre Position zu arbeiten, zu forschen und zu diskutieren. Die meisten werden früher oder später scheitern, aber sie glauben an sich, an ihre Arbeit und forschen. Sie präsentieren ihre Daten, lassen diese kritisieren und wenn sie einem Fehler erlegen sind, tun sie gut daran, diesen zu verbessern. DAS unterscheidet sie von Querulanten und Cranks.

  78. #78 Jörg Friedrich
    Juni 5, 2009

    @aetology
    Auf diesem abstrakten Niveau bin ich ganz Ihrer Meinung. Konkret wird der eine den Einzelfall eines Forschers als starrsinnig, der ander als sebstbewusst und mutig bewerten, weil der eine einen ungewöhnlichen Arbeitsweg als Fehler in der Methode ansieht, der andere gerade als mögliche neue Methode, als ungewöhnliche Idee.

  79. #79 Albert Wilfert
    Juni 9, 2009

    Wenn man in der Geschichte zurückblickt, wird man erkennen, dass die meisten bahnbrechenden Erkenntnisse von Einzelpersonen erarbeitet wurden, die in ihrer Zeit von den Etablierten angefeindet wurden bzw. in den frühen Tod getrieben. Sokrates, Paracelsus, Semmelweise, nur 3 Beispiele von Vielen.
    Dererste gilt heute als einer der grössten Philosophen, nach dem Zweiten werden heute Universitäten benannt, und die Erkenntnisse des Dritten bestreitet heute niemand mehr.
    Es ist das alte Spiel. Stellt man sich mit einer Erkentnis gegen die Herrschenden, wird einem der Schierlingsbecher angeboten.
    Nur tote Genies sind gute Genies. Dann kann man deren Büste in Gips giessen und an die Wand hängen, um sich mit den fremden Federn zu schmücken.
    Die Walhalla ist ein Jagdmuseum, hat einmal wer gesagt.

  80. #80 Christian A.
    Juni 9, 2009

    Die meisten? Oder gibt es auch ein paar Gegenbeispiele, wie Newton, Leibniz, Kant, Gauss, Euler, Lord Kelvin, Hubble, Einstein, usw. (um mal im Fachgebiet zu bleiben), die teilweise zu ihren Lebzeiten Superstars geworden sind und gleichzeitig die Wissenschaft ungemein vorangebracht haben?
    Was ihre drei Beispiele angeht, so waren das andere Zeiten, und selbst damals war es nicht so, dass ein Genie und Querdenker zu sein automatisch die Ächtung der Gesellschaft nach sich zog. Philosophen im antiken Griechenland waren hoch angesehen. Sokrates hingegen ist kurz nach dem Peleponesischen Krieg hingerichtet worden, der für Athen (und Griechenland allgemein) sehr schlecht ausgegangen ist. Er dürfte im Aufruhr der Zeit von den Mächtigen als Bedrohung empfunden worden sein. Sein Andenken hingegen wurde von seinen Schülern hoch gehalten. Die anderen beiden Beispiele passen ja noch nicht mal in dieses Schema hinein …

  81. #81 Jörg Friedrich
    Juni 9, 2009

    @Albert Wilfert, Christian A.

    Ich denke, in der lebendigen Wissenschaft gibt es immer beides: Ablehnung von Neuem bis zum Versuch der Unterdrückung und frenetischer Beifall bis zur Kritiklosigkeit. Beides sollte man im Auge behalten genauso wie der Idealfall, in dem Neue Vorschläge sachlich geprüft, kritisiert und dann wohl begründet angenommen oder abgeleht werden.

    In den Geschichten, die Wissenschaftler selbst über die Durchsetzung von neuen Theorien oder empirischen befunden schreiben, wird meist der nüchter-sachliche Idealfall betont. Wer sich dann historisch mit tatsächlichen Prozessen beschäftigt, kommt schnell zu dem Ergebnis, dass solche geschichten oft Idealisierungen sind. das führt dann zur Überbetonung der irrationalen Aspekte – und wenn zwei Überbetonungen von Extremfällen sich gegenseitig aufheben, ist das ja auch gut so.

  82. #82 David Marjanović
    Juni 9, 2009

    Von hier:

    A la suite de Denis Duclos (Le Monde du 3 janvier), voici que l’éminent sociologue Bruno Latour offre son interprétation de la soi-disant[e?] “affaire Sokal” (18 janvier). Hélas, son article est trop audacieux et trop modeste à la fois.

    Trop audacieux lorsqu’il prétend, sans en apporter la moindre preuve, qu'”un très petit nombre de physiciens théoriciens, privés des gras budgets de la guerre froide, se cherchent une nouvelle menace” en s’attaquant aux intellectuels postmodernes.

    Meine Übersetzung:

    Nach Denis Delclos (Le Monde vom 3. Jänner [1997]) bietet hier der herausragende Soziologe Bruno Latour seine Interpretation der sogenannten Sokal-Affäre an (18. Jänner). Leider [ein sehr pathetischer Ausdruck] ist sein Artikel zugleich zu kühn und zu bescheiden.

    Zu kühn, weil er behauptet, ohne den geringsten Beleg anzuführen, dass “eine sehr kleine Anzahl von theoretischen Physikern, der fetten Budgets des Kalten Kriegs beraubt, sich eine neue Bedrohung suchen“, indem sie die postmodernen Intellektuellen attackieren.

    Wenn Latour das wirklich gesagt hat, fällt das unter extraordinary claims require extraordinary evidence, denn dass besagte theoretische Physiker
    – so moralisch böse sein sollen, eine globale tödliche Bedrohung zu erfinden;
    – so lächerlich dumm sein sollen, zu glauben, sie könnten ein paar Philosophen/Literaturkritiker als genauso gefährlich wie einen nuklearen Weltkrieg darstellen;
    – so lächerlich dumm sein sollen, zu glauben, sie könnten “fett” finanziert werden, um… was genau zu erforschen? SDI gegen philosophische Massenvernichtungswaffen?
    ist jedes für sich, geschweige denn alles zusammen, höchst unparsimoniös. Und da habe ich die Behauptung ganz ignoriert, theoretische Physiker hätten “fette Budgets”, von denen nicht nur ihre Grundlagenforschung, sondern auch sie selbst leben konnten, bekommen; darüber weiß ich nichts, allerdings würde es mich wundern.

    Da kann es Latour nicht überrascht haben, wenn die Subjekte seiner Forschung den Schluss gezogen haben, er glaube selbst nicht, was er erzählt, und wolle nur seinen Kollegen imponieren oder dergleichen.

    Bereits zu Beginn des 20.Jahrhundert hat der russische Gelehrte Konstantin Mereschkowsky einen epochalen Aufsatz über den symbiotischen Ursprung der Chloroplasten in pflanzlichen Zellen veröffentlicht. (Es gab ein oder zwei Vorläufer, die ähnliches behauptet hatten). Das Interesse an diese These erlahmte schnell, weil man sich mehr um den Zellkern kümmerte, […] weil der damals führende Zellbiologe E. B. Wilson, Mereschkowsky’s Ideen rundweg als „unterhaltsame Fantastereien“ ablehnte und in seinem Lehrbuch disqualifizierte.

    Naja, Mereschkowsky hatte Recht, aber aus den falschen Gründen, und Wilson hatte Unrecht, aber aus den richtigen Gründen: Mereschkowskys Argumente beliefen sich, soweit mir bekannt ist, im Wesentlichen auf “es schaut halt so ähnlich aus”. Die Fülle von zumeist molekularen Daten, die man jetzt hat, war noch nicht bekannt; sogar die Glaukophyten wurden damals erst entdeckt.

    Schlussendlich haben Wissenschaftler diesen Fehler korrigiert (nicht so sehr Margulis, die eher Erkenntnisse verbreitet als gemacht hat, sondern Molekularbiologen). Die wissenschaftliche Methode ist mitnichten perfekt, aber wenn man sie konsequent anwendet, führt sie dazu, dass Fehler korrigiert werden.

    Oben hat jemand den Vergleich mit der Demokratie gezogen, “der schlechtesten Staatsform mit Ausnahme aller anderen”. Die Demokratie ist auch nicht perfekt, aber, konsequent angewendet, führt auch sie dazu, dass Fehler früher oder später korrigiert werden. Bush ist weg, Berlusco”li”ni hat angefangen zu stolpern – und das alles auch noch ohne Blutvergießen.

    Falls Sie etwas Besseres als die wissenschaftliche Methode (Falsifikation und Parsimonie) vorzuschlagen haben, immer her damit!

    weil es nicht mit dem graduellen Darwinschen Evolutionsmechanismus in Einklang zu bringen war

    Im Ernst?!? Das möchte ich sehen.

  83. #83 David Marjanović
    Juni 9, 2009

    Noch etwas Wissenschaftsgeschichte über Margulis: Margulis hat einen endosymbiotischen Ursprung nicht nur für die Mitochondrien und die Chloroplasten, sondern auch für die Geißeln/Wimpern* der Eukaryoten behauptet. Für die ersten beiden ist das mittlerweile Lehrbuchwissen, an dem niemand mehr zweifelt; was allerdings die Geißeln/Wimpern angeht, redet (außer möglicherweise Margulis selbst) niemand mehr davon, obwohl sie so spezifisch war, sie von Spirochäten (Bakterien in Spiralnudelform) abzuleiten. Warum? Weil die molekularen Daten einfach nicht passen. Gut, dass Geißeln/Wimpern kein Genom haben, ist kein Hindernis (manche modifizierten Mitochondrien haben auch keines mehr). Aber das Cytoskelett der Spirochäten ist mit dem Actin, nicht mit den Tubulinen, verwandt, und man hat bisher keine Gene mit Spirochäten-Ursprung im Zellkern gefunden (Gene von Proteobakterien, also möglicherweise aus den Mitochondrien, finden sich dort zuhauf). Ähnliches gilt für den Bewegungsapparat. Die Tubuline, die die Geißeln/Wimpern von innen stützen, sind mit einem Protein (FtsZ) in der Zellteilungsmaschinerie von Bakterien (einschließlich Spirochäten) und Archäen verwandt und sind daher vermutlich von den Eukaryoten einfach ererbt worden.

    Wo Margulis Recht hat, hat sie Recht; wo sie nicht Recht hat, hat sie nicht Recht. Was was ist, entscheiden die Daten, sobald man sie eben kennt.

    * Flagellen/Cilien. Es handelt sich um die gleiche Struktur, für die Margulis den Namen Undulipodium geprägt hat, der leider immer noch kaum verbreitet ist – von Wimpern spricht man dann, wenn es viele pro Zelle und/oder auf der Haut eines mehrzelligen Tieres gibt. Die bakterielle Geißel (genauso Flagellum) ist, irreführenderweise, etwas ganz Anderes.

  84. #84 Albert Wilfert
    Juni 11, 2009

    @ Jörg Friedrich

    Mir war von Anfang an klar, dass ich mich auf diesen Blogs hier als als wissenschaftlicher Laie recht schwer tun werde. Dafür habe ich den
    Vorteil keine Reputation verlieren zu können. Hauptsächlich beeinflusst haben mich neben anderen Paul Feierabends Ansichten über den Wissenschaftsbetrieb und insbesondere Prof. Dr. Erwin Chargaff, Biochemiker, ein Mann von hoher allgemeiner Bildung und Wissen und interessanter Biografie, der nach seiner Emeritierung nach 50 Jahren Arbeit im Spitzenbereich teils vernichtende Resümees zog und sich selbst dabei nicht aussparte. Seine Empfehlung, den Wissenschaftsbetrieb wieder auf das Mass des 19. Jhdt. zurückzuführen halte ich für das Klügste und am besten Bedachte in diesem Bereich. Seine Prophezeiungen haben für mich fast prophetischen Charakter.
    Ich selbst bin in einer handwerklichen Branche tätig, und weiss den Fortschritt in der Technik durch CNC Maschinen und Computeranimation sehr wohl zu schätzen.
    Daneben beschäftige ich mich seit ca. 15 Jahren mit Medizin, im speziellen mit Homöopathie, da mir die wissenschaftliche Medizin keine befriedigenden Ergebnisse
    liefern konnte, diese aber sehr wohl.
    In der Medizin hat die Sicht der Wissenschaft, den Menschen quasi als Maschine zu betrachten, zu fatalen Konsequenzen geführt, die meiner Ansicht nach schärfstens bekämpft werden sollte. Zu gross ist die Zahl der Opfer, auch in meinem Bekanntenkreis. Hier gibt es für mich, der ich ein absoluter Anhänger von Liberalität im Umgang mit Denkrichtungen und Ideen bin, keine Toleranz.

    Und dann werde ich konfrontiert mit einer Blogseite eines Physikers, der schon im Titel seines Beitrags keinen Zweifel lässt, was er von Homöopathie hält, obwohl er ganz offensichtlich noch nie ein grosses Werk gelesen hat, noch eine ernstzunehmende Behandlung probiert noch mit einem Ausführenden gesprochen hat, was für mich geradezu als Kriterium für Inkompetenz gilt.
    Derselbe “Wissenschaftler” fühlt sich dann auch noch bemüssigt, ähnliches über Akkupunktur zu sagen, mit gleichem Wissenstand.
    Ich habe Beweise angeboten, welche vor ihrer Prüfung als Fälschungen bezeichnet werden.
    Solche “Wissenschaftler” gäbe es besser nicht, und ich halte es für absolut unangemessen, dass solche Leute von der Allgemeinheit bezahlt werden.
    Die wissenschaftlichen Entdeckungen im “grossen 19.Jhdt.” wie sich Chargaff ausdrückt, waren grossteils Einzelleistungen von passionierten Forschern, ohne besonderen gesellschaftlichen Status. Heute ist das ein Massenbetrieb, dessen Mitglieder sich bemüssigt fühlen, Alles ausser ihren spärlichen Erkentnissen als Humbug abzulehnen.
    Wenn man es ihnen sagt, wird man von ihren Seiten ausgeschlossen.
    Ihre Seiten sollen offensichtlich hauptsächlich ihrer Selbstbeweihräucherung dienen, wobei jeder kritische Einwand als Störung empfunden wird.
    Für mich sind diese Kämpfe grossteils einfach Spass, trotz des ernsten Hintergrunds.
    Ich bekämpfe Ansichten und nicht Menschen.

  85. #85 aetiology
    Juni 11, 2009

    Um nochmal auf das Stern-Interview mit Chargaff zu verweisen.
    https://tomheller.de/theholycymbal/interview/erwin-chargaff.html
    Ein verbitterter alter Mann, der wie Chronos versucht, sein geistiges Kind zu fressen.

  86. #86 Albert Wilfert
    Juni 11, 2009

    @ aetiology

    Ausser dem Nobelpreis, den er neben Crick und Watson zusammen mit S.Franklin auch verdient hätte, hatte Chargaff in der Wissenschaft eine grosse Karriere, mit Entdeckungen, die heute den Standard in der Biochemie bilden. Stipendien, Ehrendoktorate, alles wovon die kleinen Hüpfer auf dieser Seite träumen. Wenn er wirklich verbittert war, was ich nicht glaube, ich würde seine Haltung eher als grossen Skeptizismus gegenüber der Zukunft der Wissenschaft bezeichnen, dann muss das einen anderen Grund haben.
    Er gehörte auch ohne Nobelpreis zu den Topleuten. Daneben hatte er eine umfassende Bildung. Er kannte sogar die Literatur eines William Blake, was unter Wissenschaftlern sicher ziemlich einzigartig ist. Von den Vorsokratikern bis Montaigne
    und Karl Kraus, den er sehr verehrte. Ihm vorzuwerfen zum Wissenschaftskritiker geworden zu sein, wegen eines nicht erhalten Nobelpreises, fällt auf den Vorwerfer zurück. Sartre z.B. hat ihn nicht genommen. Chargaff hätte ihn sicher genommen, aber die Geistesgrösse von Sartre hatte er zumindest.
    Warum sollte er nach einer lupenreinen erfolgreichen Karriere wegen eines nicht erhaltenen Preises “verbittert” sein. Verärgert ja, wenn man sich Crick und Watson ansieht im Vergleich, aber verbittert. Dazu gibt es keinen Grund.
    Sein eigenes Kind zu fressen? Ja, vielleicht weil es missbraucht wird von seinen Nachfolgern, ähnlich wie die Kernspaltung in Hiroshima. Ja darüber schreibt er auch ausführlich. Er hatte Schuldgefühle, an etwas beteiligt zu sein, was sich als verderblich herausstellen würde. (Monsanto)

  87. #87 aetiology
    Juni 11, 2009

    Klar, dass Ihnen Chargaff gefällt: Der gute Mann hat sich die letzten 40 Jahre seines Lebens aus dem Labor verabschiedet und Briefe darüber geschrieben, wie böse alle zu ihm sind und warum die Welt früher soviel besser war. Wäre er heute noch am Leben, hätte er wahrscheinlich eine Kolumne in der österreichischen Kronen Zeitung.

    Aber ich finde das schon interessant: Im vorigen Posting beschreiben Sie sich noch als Laien, jetzt wollen Sie wissen dass er für seinen Beitrag zur Entdeckung der Struktur der DNA den Nobelpreis verdient hätte.
    Schwankendes Rohr im Winde?

  88. #88 Albert Wilfert
    Juni 12, 2009

    @ aetiology

    Mir gefällt er deswegen, weil er nicht so eindimensional war, wie viele hier in diesem Forum. Interessante, schwierige Lebensgeschichte, 2x aus seiner Heimat vertrieben, grosse Karriere und trotzdem ein Gewissen. Hochintelligent, gebildet und demütig.
    Solche Leute muss man mit der Lupe suchen.

    Schwankendes Rohr im Wind? Kann sein. Aber vielleicht doch besser als eine leere vom Zeitgeist aufgeblasene Hülle.